»Nein, kein bisschen«, ich schüttelte den Kopf und folgte Bea nach draußen.
Bea und ich mischten uns unter die Schülermenge, die in Richtung Eingangshalle strömte. In der riesigen Halle angekommen, löste sich die Menge auf und die Schüler liefen kreischend auf ihre Eltern zu, die sie seit Wochen nicht mehr gesehen hatten. Überall lagen sich Familien in den Armen und der Lärmpegel stieg von Minute zu Minute an, weil immer mehr Schüler ihren Eltern hysterisch schreiend um den Hals fielen. Mein Magen zog sich zusammen und ich klammerte mich an Beas Arme.
»Ich geh dann mal«, sagte sie leise zu mir und begrüßte ihre Eltern, die mich mit einem abschätzigen Blick bedachten. Natürlich wollte niemand, dass ihre Tochter mit mir befreundet war. In diesem Moment sah ich meine Eltern, eine kleine Frau mit rötlichen Haaren und den dicken Mann neben ihr. Zögerlich machte ich ein paar Schritte auf sie zu und der Mund meiner Mutter verzog sich sofort.
»Hallo Sofia«, sagte sie kühl, mein Vater schwieg.
»Äh … Hi«, sagte ich vorsichtig.
»Wir haben gehört«, meine Mutter senkte die Stimme, »dass du trotz deiner fehlenden Magie einen Mentor bekommst. Ist das wahr?« Ich nickte mit trockenem Mund. Wie ich die Gespräche mit meinen Eltern hasste! Sie arbeiteten beide als Zaubertrankmischer, kein besonders angesehener, aber auch kein schlechter Beruf. Rotkutten hatten allgemein nicht viele Aufstiegsmöglichkeiten.
»Nun denn, hoffen wir, dass er dir ein bisschen helfen kann. Hast du dich übrigens schon einmal umgesehen wegen deines Berufes? Ich schätze mal, du wirst in einer Familie das Hausmädchen spielen können. Ich habe gehört, dass Familie Meier jemandem zum Putzen sucht, sie ist ja eine der angesehensten Rotkuttenfamilien. Es wäre wahrscheinlich die einzige Möglichkeit für dich, an ein bisschen Geld zu kommen. Was meinst du dazu, Sofia?«
Ich wollte das alles gar nicht hören, wollte meine Zukunft nicht im Blick haben. Vor allem wollte ich nicht, dass meine Eltern mir vorschrieben, was ich zu tun hatte.
»Ich habe noch zwei Jahre mit meinem Mentor«, sagte ich deswegen bestimmt. »Und außerdem bin ich sechzehn und sehr wohl in der Lage, mich alleine zu informieren.«
Wir schwiegen; es war ein unangenehmes Schweigen, das mich unruhig machte und den Blick senken ließ. Ich seufzte erleichtert auf, als der Direktor die Halle betrat und sofort auch alle anderen Gespräche verstummten. Yu Weiß war ein großer, schlaksiger Mann mit kurzen, braunen Haaren. Man munkelte, er sei eine Blaukutte, aber niemand wusste das genau. Ich glaubte, dass er mindestens eine Schwarzkutte wäre, die sehr viel mehr Macht als die Rotkutten hatten, aber noch nicht so viel wie die Blaukutten. Schwarzkutten gab es häufiger, sie machten etwa achtzehn Prozent der Bevölkerung aus, Blaukutten nur zwei. Der Rest waren Rotkutten. Allerdings waren Schwarzkutten böse und der Schulleiter schien mir sehr freundlich zu sein, also traf das vermutlich nicht zu.
»Die Mentoren sind nun bereit. Wenn Sie mir bitte folgen würden.« Der Strom aus Eltern und Schülern führte uns aus der Halle hinaus durch die Mensa in unseren Saal, in dem alle Feiern abgehalten wurden. Die Bänke waren längs auf dem zerkratzen Boden verteilt aufgestellt; vorne auf der Bühne standen etwa dreißig Mentoren vor den geflickten, zugezogenen Vorhängen.
Meine Eltern und ich setzten uns in eine der letzten Reihen und warteten schweigend, bis Yu Weiß die Bühne betrat.
»Liebe Eltern, liebe Schüler«, begann er mit seiner sanften Stimme. »Schon wieder ist ein Jahr vorbeigezogenen und nun haben genau zweiunddreißig Schüler den zehnten Jahrgang hinter sich gelassen. Morgen schon wird der Unterricht der Mentoren beginnen. Ihre Kinder begeben sich nun auf den Weg der Entfaltung ihrer Kräfte. Das hat viel mir ihrer Magie, aber auch mit der geistigen Stärke jedes einzelnen zu tun. Was die Mentoren von den Schülern halten, ist sehr wichtig, auch für den späteren Beruf. Aus diesem Grund sind es sehr kluge Rotkutten, die sich unserer Schüler annehmen werden. Ich selbst habe die Mentoren dieses Jahr ausgewählt und auch ich bin dieses Jahr Mentor.«
Sofort tuschelten die Schüler in den Reihen vor mir. Jeder wollte Yu Weiß als Mentor haben, aber wahrscheinlich würde er die mächtigste Rotkutte meines Jahrgangs nehmen: Isabell.
Ich senkte den Blick und schlug unruhig meine Beine übereinander.
»Ich will euch, liebe Schüler, aber auch nicht zu sehr langweilen. Wenn ich eure Namen vorlese, begebt ihr euch bitte mit euren Eltern nach vorne auf die Bühne … Isabell Scheft!«
Ich hob wieder den Kopf und sah, wie Isabell mit erhobenem Kinn nach vorne lief, flankiert von ihren Eltern, und sich neben Yu Weiß stellte. Der erste Mentor in der Reihe trat vor, ein kleiner, stämmiger Mann mit einem etwas merkwürdigen Gesicht (es sah ehrlich gesagt aus, als wäre er gegen eine Wand gelaufen) und Isabell verbeugte sich vor ihm. Die Abfolge hatten wir vor ein paar Wochen mit unserer ehemaligen Klassenlehrerin geübt. Der Mann nahm etwas Wasser aus einer Schale, die Yu Weiß ihm reichte, und ließ drei Tropfen auf ihren Kopf herunterfallen.
»Im Name der Rotkutten«, sagte er und träufelte noch etwas Wasser auf ihren Kopf, »der Schwarzkutten«, drei Tropfen rieselten auf ihren Kopf, »und der Blaukutten. Isabell Scheft, wirst du mir gehorchen, um deine Magie zu entfalten? Wirst du mir Glauben schenken, was auch immer ich dir erzähle, und meiner Meinung vertrauen?«
Isabell nickte. »Ja, ich werde.« Die Menge klatschte, und Isabell und ihre Eltern setzten sich wieder, auf ihren Gesichtern prangte ein breites Grinsen.
Ich wusste, warum Isabell als erste nach vorne hatte gehen dürfen; sie hatte am meisten Magie, und bekam aus diesem Grund auch den ersten Mentor. Am Ende der Klasse zehn hatten wir eine Art Abschlusszeugnis erhalten, auf dem der Grad unserer Magie stand. Auf meinem Stand 0 (nachvollziehbar), Isabell hingegen hatte 17 Magiepunkte erhalten, Bea 9. 17 Magiepunkte waren für Rotkutten schon ziemlich viele, natürlich nichts gegen Blaukutten. (Ich hatte gehört, dass ihre Magie bis zu 86 Punkte erreichte!)
Es folgten ein paar Kutten aus meiner Parallelklasse, dann zwei Jungen aus meiner Klasse und Bea. Ich lächelte sie an, als sie nach vorne ging, so anmutig wie sie lief, konnte man es fast fliegen nennen. Ihr Mentor war eine große Frau, die verkniffen schaute und ihr so viel Wasser aufs Haar schüttete, dass es ihr in die Augen lief. Aber Bea grinste tapfer und zwinkerte mir zu, was ihre Eltern mit einem leichten, ungläubig Kopfschütteln quittierten. Je mehr Schüler aufgerufen worden, desto unruhiger wurden meine Eltern. Ich fragte mich wirklich, wieso. Ihnen war doch klar, dass ich die wenigste Magie von allen hatte (nämlich gar keine) und deshalb als Letzte aufgerufen werden würde.
Die Mentoren, die schon Schülern zugeteilt worden waren, verschwanden hinter dem Vorhang, sodass ich immer genau wusste, wie viele Mentoren noch übrig waren. Bald darauf stand nur noch Yu Weiß auf der Bühne. Das konnte nicht wahr sein! »Wir haben dieses Jahr ein besonderes Mädchen bei uns«, sagte der Direktor und ich schaute auf meine Füße. Bitte nicht, betete ich. Bitte sag es jetzt nicht!
»Sie hat keine Magie«, widersetzte Yu Weiß sich meiner stummen Bitte. In diesem Augenblick drehten sich alle Eltern um und starrten mich an. Meine Mutter rückte unauffällig (wie sie wahrscheinlich dachte) ein bisschen von mir weg. »Und die meisten Mentoren, die ich gefragt habe, wussten nicht, was sie sie lehren sollten. Aus diesem Grund werde ich mich ihrer annehmen.« Sofort entbrannte Protest, vor allem von den Eltern der ersten Schüler (angeführt natürlich von Isabells Mutter und Vater). »Warum unterrichten Sie denn nicht die Mächtigsten?«, brüllte Isabells Vater. Doch ein Blick von Yu Weiß brachte ihn zum Schweigen. »Kommst du nach vorne, Sofia Winters?«
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