»Wo verdammt noch mal warst du?«, zischelte Bea mir zu. Ich hatte keine Ahnung, was ich von dem Geschehenen halten, geschweige denn, wie ich es in Worte fassen sollte (ehrlich gesagt zweifelte ich wirklich an meinem Geisteszustand), also zuckte ich nur mit den Schultern und wandte mich Yu Weiß zu.
»Ja, es gibt selten Erdbeben, Ilse. Das ist aber kein Grund zur Besorgnis und sicher kein Vorbote zum Weltuntergang«, sagte er nachdrücklich zu einer jüngeren Schülerin, die sich klammheimlich die Tränen aus dem Gesicht wischte. Sie klammerte sich verängstigt an ihre Freunde und schien nur bedingt beruhigt durch Yu Weiß’ Worte zu sein. »Meine Eltern sagen, dass Erbeben von den Göttern kommen«, murmelte sie.
»Nun, die Götter haben in allem ihre Finger mit drin«, sagte Yu Weiß sanft und richtete sich dann an alle, sodass das leise, unruhige Geflüster zwischen den Schülern erstarb. »Das Erdbeben und auch der Sturm sind kein Grund zu Sorge, meine Lieben. Ihr könnt wirklich wieder ins Bett gehen.« Die meisten Schüler erhoben sich, aber ich hörte, wie viele von ihnen ängstlich »Armet sei bei uns« murmelten. Das Erdbeben schien sie wirklich verschreckt zu haben. Mein Magen drehte sich um, als ich an das dachte, was auf dem Dach passiert war. Ich hatte keine Erklärung für so etwas – die Götter mussten ihre Finger im Spiel haben. Aber selbst ich wusste, dass Armet so etwas nicht geschafft hatte. Hylos, der Gott der Schwarzkutten, oder Lucis, die Göttin der Blaukutten, musste das Erdbeben verursacht haben.
Bea riss mich aus meinen Gedanken, indem sie mich am Handgelenk fasste und mit den Schülermassen aus der Mensa drängte.
Kaum waren wir in unserem Zimmer, platzte Bea heraus: »Wo warst du, Sofia? Wir haben uns solche Sorgen gemacht!«
Ich ließ mich auf mein Bett sinken und überlegte, was ich erzählen sollte. Ich sah meine beste Freundin nachdenklich an. Sie war immer für mich da. Bei der Frage ob ich Mary vertrauen könnte, war ich mir zwar noch sehr unschlüssig, aber sie kannte sich mit Schwarzkutten am besten aus. Wenn jemand eine Erklärung hatte, dann sie. Ich seufzte noch einmal und ließ mich auf mein Bett fallen.
»Ihr müsst versprechen, dass ihr das jetzt nicht weitererzählt«, ich sah Bea, die sich unter ihre Decke gekuschelt und Mary, die wie immer ein Buch in den Händen hatte, ernst an. Dann erzählte ich ihnen alles; angefangen von meiner Schlaflosigkeit und dem Besuch des Dachs, dem Klappern der Leiter und meiner Angst. Auch von dem Flimmern vor meinen Augen berichtete ich, auch wenn ich befürchtete, dass sie mich jetzt für noch verrückter hielten als vorher. Als ich geendet hatte, legte sich Schweigen über uns. Bea war ganz weiß im Gesicht, aber das war nichts gegen Marys ungesund grünliche Farbe. Die ehemalige Schwarzkutte ließ ihr Buch sinken, sodass es mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden fiel.
»Bei Armet«, stöhnte Bea irgendwann und brach damit das Schweigen.
»Was soll ich denn jetzt machen?!«, ich hob die Hände. »Keine Ahnung, was da passiert ist. Ehrlich – die kamen plötzlich auf mich zu. Ich hab es euch ja erzählt.«
Mary knabberte an ihrer Unterlippe, dann sah sie mich stirnrunzelnd an.
»Für das hier gibt es eigentlich nur zwei mögliche Erklärungen«, sagte sie langsam.
Bea und ich sahen sie abwartend an und ich bekam das Gefühl, dass Mary viel klüger war, als sie zugab.
»Erstens: Die Götter haben dich, warum auch immer, beschützt. Da Armet für so etwas zu schwach ist, müssen es Hylos oder Lucis gewesen sein. Aber warum sollte Hylos, der Gott der Schwarzkutten, so etwas tun? Jemanden gegen seinen eigenen Stamm beschützen? Bleibt also nur Lucis. Auch da stellt sich die Frage, weshalb sie dich beschützen sollte, wo du doch zu keinem von ihnen zu gehören scheinst«, sagte Mary ernst.
Ich schaute Bea verblüfft an und konnte nicht anders, als Mary für ihre schnellen Erkenntnisse zu bewundern. Bea anscheinend auch, denn sie schaute mich fassungslos an.
»Womit wir bei der zweiten Erklärung wären«, fuhr Mary fort. »Da Magie dich beschützt und die Schwarzkutten vertrieben hat, liegt es nahe, dass die Magie auch von dir ausgegangen ist. Die Dinge, die du uns beschrieben hast, waren Regen, Sturm, ein rotes Flimmern – ich nehme mal an, es handelte sich um Feuer – und ein Erdbeben, das wir alle gespürt haben. Auch wenn ich die Umstände nicht verstehe, Sofia: Das ist die Magie einer Blaukutte.«
Ich schaute sie fassungslos an und konnte dann ein hysterisches Lachen nicht unterdrücken. »Nein, Mary. Das ist unsinnig. Niemand bekommt die Magie erst so spät. Und außerdem, das was da aufeinandergestoßen ist, waren alle vier Elemente. Keine Blaukutte beherrscht alle vier, das können nur die Götter.«
Mary zuckte mit den Schultern. »Schon, aber wir können nichts ausschließen, Sofia. Außerdem – denk an dein Fieber und die Kopfschmerzen. Bei dir war es heftiger als bei allen Kutten, die ich kenne, aber das sind die Vorboten von Magie. Jede sechsjährige Kutte kann dir das bestätigen. Am klügsten wäre es, sich Yu Weiß anzuvertrauen. Er weiß sicher, was du machen kannst.«
Schon bevor sie geendet hatte, schüttelte ich wild den Kopf. »Niemals. Ich will nicht, dass er mich für geisteskrank hält. Das Erdbeben, okay, das haben alle mitbekommen. Aber Schwarzkutten auf dem Dach? Außerdem müsste ich erklären, weshalb ich auf dem Dach war – und wieso ich überhaupt weiß, wie man dort hinauf kommt. Und er müsste mir glauben, dass ich einen Fall über zwanzig Meter ohne einen Kratzer überstanden habe«, ich tickte mir an die Stirn. »Ich bin schneller als verrückt abgestempelt, bevor ich auch nur die ganze Geschichte erzählt habe.«
Bea gab mir Recht. »Das glaubt niemand, Mary. Selbst Yu Weiß nicht.«
Wir saßen ein paar Minuten ratlos da, dann ergriff Mary wieder das Wort.
»Leute, vielleicht sind wir einfach ein bisschen überdreht. Wir hatten wenig Schlaf. Wir sollten erst einmal schlafen, morgen sieht die Welt ganz anders aus.«
Ich wusste zwar nicht, ob ich ihr da Recht gab, aber so kamen wir auf jeden Fall nicht weiter, also löschten wir das Licht und eine tiefe Dunkelheit senkte sich über unser Zimmer.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte und an die weiße Decke starrte, (na ja, sie hatte ein paar Farbspritzer bekommen, als Bea und ich in der siebten Klasse meinten, eine Leinwand bemalen zu müssen) kamen mir die Erlebnisse von gestern wie ein Traum vor. Ehrlich gesagt konnte ich gar nicht mehr genau sagen, ob da überhaupt ein Flimmern in der Luft gewesen war. Und der Regen? Meine Augen hatten irgendwie verrückt gespielt. Ich seufzte tief und drehte mich zur Seite, sodass ich Bea sehen konnte. Sie saß auf ihrem Bett und zog sich ihre Robe über.
Bea lächelte mir leicht zu, aber ich wusste, wie verwirrt sie von den ganzen Dingen war, die gestern passiert waren. (Ich war es aber noch viel mehr, schließlich waren sie mir passiert.) Mary war anscheinend schon im Bad, denn ich hörte Wasser rauschen und einen echt schrecklichen Gesang, der dem meinem sehr nahe kam. Bea und ich schauten uns an – dann prusteten wir los. Wir wurden aber schnell wieder ernst.
»Was da gestern passiert ist – das, was du erzählt hast – das ist gruselig, Sofia. Ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache. Was auch immer da passiert ist, die Götter haben so oder so ihre Finger im Spiel. Und genau das beunruhigt mich«, sagte Bea. Ich nickte, sie sprach genau meine Gedanken aus.
»Keine Ahnung. Ich weiß nicht, was da geschehen ist.« Und ich wollte mich auch nicht daran erinnern. Ich lächelte Bea (wie ich hoffte aufmunternd) zu. »Lass uns erst einmal frühstücken. Vielleicht habe ich mir den Großteil auch eingebildet.« (Ehrlich gesagt hoffte ich es. Denn die Möglichkeiten, die Mary in Betracht zog, waren weit gefährlicher als ein gestörter Geisteszustand.)
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