»Aber mein Kind, du musst -«
»Finger weg! Als ich SIE brauchte, waren SIE auch nie da. Also brauchen wir jetzt erst gar nicht mit irgendwelchen Vertraulichkeiten anzufangen.«
Schritte im Dunkel zwischen den Regalen. Frank hüpfte über die Reste der zerbrochenen Scheibe nach draußen und tat so, als wäre er gerade erst angekommen. Sandra kam aus einer Regalreihe und blickte ihn finster an.
»Was machst du hier?«
»Es braut sich ein Unwetter zusammen. Ich wollte euch holen, bevor es losgeht. Du weißt ja, Dunkelheit und so.«
Sandra starrte ihn einen Moment misstrauisch an. Dann warf sie ihm ein Paar fest aussehende, knöchelhohe Wanderschuhe hin.
»Hier. Die müssten passen. Vierundvierzig, extra breit.«
Ohne ein weiteres Wort schnappte sie sich die Rucksäcke und ging zu Pfarrer Starks Papamobil. Frank atmete tief durch. Dann folgte er ihr.
Der dunkle Mann fand viele gute Anlagen in Papa. Zorn, Neid, Gier … Aber auch die Vergangenheit dieses Untoten war interessant.
Einst ein Soldat, war er unehrenhaft aus der Armee entlassen worden. Alkohol und eine Prügelei mit einem Vorgesetzten, danach der Absturz im Privatleben. Arbeitslos, nur geringe Bezüge, schließlich Hilfsarbeiter in einer Zeitarbeitsfirma und zuletzt dann ein Ausweg aus diesem Teufelskreis, ein richtiger Job als Hausmeister. Ein Absprung jedoch, der für diesen Mann, der andere Tätigkeiten und Verantwortlichkeiten gewohnt war, keinen Ausgleich darstellte. Als alternativlos hatte er damals seine Lage eingeschätzt, und die Tätigkeit letztendlich angenommen, die ihm zwar mehr Geld einbrachte, ihn aber noch weiter herunterzog in den Strudel aus Selbstmitleid und Selbsthass.
Und die Wut in Tomasz war immer größer geworden.
Zwischen all dem sah der dunkle Mann immer wieder den Alkohol, die Gier nach Macht und die heiße Wut auf die Welt der glücklichen Faulenzer um Tomasz herum aufblitzen. Wut, Neid und Gier auf die anderen, mit ihren schicken Autos, ihren teuren Klamotten und den heißen Bräuten, während daheim auf ihn nur ein farbloses Weib und ein plärrendes Gör warteten. Und immer wieder sah der dunkle Mann die Gewalt, die Tomasz gegen seine Frau und seine Tochter richtete, einen kleinen rothaarigen Teufel.
Das war nicht immer so gewesen. Es gab da in der Vergangenheit eine Zeit, in der er ein guter Vater gewesen war. Was hatte ihn so verändert?
Der dunkle Mann griff noch tiefer in das Bewusstsein des Untoten, und dann fand er die Antwort.
Krieg.
Tomasz Adamcyk war im Kosovo eingesetzt gewesen, hatte als Mitglied der Friedenstruppen so viel Leid und Gewalt gesehen, dass er sich in den Alkohol geflüchtet hatte.
Ja, fand der dunkle Mann. In dieser Kreatur hatte er tatsächlich ein beinahe perfektes Werkzeug gefunden. Vorsichtig flüsterte er dem Bewusstsein Geheimnisse zu. Nur einflüstern, nicht direkt eingreifen. So lauteten die Regeln. Aber ein wenig würde er sie schon beugen können, wenn er nur vorsichtig genug war.
Und so gab er Papa, der sich jetzt selbst als Tomasz verstand, ein klein wenig von der Fähigkeit zurück, welche die Menschen in ihrem Größenwahn Denken nannten.
Als der dunkle Mann fertig war, hingen schwere Wolken über dem verwüsteten und entvölkerten Köln. Ein schwacher Wind brachte die erste Ahnung von einem nahenden Sturm, trieb Papier und vergessene Kleidung über die Straße. Irgendwo in der Nähe heulte ein Hund. Der dunkle Mann lehnte sich zurück, tauchte aus den Tiefen des fremden Bewusstseins wieder auf. Sein Finger deutete auf eine schmale Brücke, die über den Rhein führte.
»Dort drüben.«
Tomasz öffnete die Augen. Dumpfes Verstehen glomm in ihnen auf, und der Zombie folgte mit seinem Blick der Geste des dunklen Mannes. Als er sich wieder umwandte, war Gabriel weg. Aber das war egal.
Tomasz hatte eine Aufgabe.
Tomasz würde wieder in den Krieg ziehen.
Ein letzter Blick auf seine Truppen, die sich langsam wieder aufrappelten, dann marschierte er los.
Die Wolken über Köln versprachen ein kräftiges Gewitter.
Kapitel VIII - Auf der Flucht
Sandra bildete die Vorhut der kleinen Gruppe. Mit ihren ausgreifenden Schritten legte sie ein enormes Tempo vor, dem Pfarrer Stark mit seiner schweren Ausrüstung kaum folgen konnte. Sie hatten beschlossen, dass er ihre Nachhut bilden sollte, weil er von ihnen am besten ausgerüstet war. Frank hielt sich in der Mitte und versuchte krampfhaft, den Anschluss an Sandra nicht zu verlieren und gleichzeitig den Pfarrer nicht abzuhängen. Frank und Sandra trugen die beiden Trekkingrucksäcke, in die sie so viel an Konserven und Trinkwasser aus den erbeuteten Vorräten des Pfarrers gepackt hatten, wie eben hineinpasste. Stark hatte einen etwas kleineren Rucksack, der für Medikamente und Erste-Hilfe-Material vorgesehen war, sollten sie welches finden.
Sie befanden sich etwa auf der Mitte der Brücke, als die ersten Regentropfen schwer auf sie niederprasselten. Der war endgültig mit dunklen Wolken zugezogen. Ein unangenehmer Wind blies über die Brücke. Er brachte einen süßlichen Duft mit, der Frank würgen ließ. Irgendwie war er stärker geworden. Über ganz Köln hing dieser Geruch, aber Frank hatte ihn bisher noch nie so intensiv wahrgenommen.
»Sobald dieser Geruch stärker wird, droht Gefahr«, brummte Stark hinter ihm. »Das ist der Hauch des Bösen, der Geruch der Zombies.«
»Quatsch«, rief Sandra über die Schulter, ohne dabei langsamer zu werden. »Seht in den Rhein, dann wisst ihr, warum es hier so stinkt.«
Frank blieb stehen und sah über das Geländer der Südbrücke. Der Rhein trug Niedrigwasser, was zu dieser Jahreszeit sehr ungewöhnlich war. In der schmalen Fahrrinne trieben Körper. Und das keineswegs leblos. Sie zappelten, griffen nach oben und wurden von der Strömung unter der Brücke weggetragen. Wieviele von diesen Dingern waren das? Er sah den Fluss entlang in Richtung Deutzer Brücke. Es waren Massen von Untoten, die den Rhein hinuntertrieben. Ein leises Murmeln erklang hinter ihm. Frank wandte sich um und sah Pfarrer Stark, der einen Segen über die Kreaturen im Rhein sprach.
»Was machen die alle dort unten?«, fragte Frank, nachdem Stark mit einem Amen geendet hatte.
»Der Rhein hat in ihrem Leben eine wichtige Rolle gespielt, mein Sohn. Er teilt die Stadt in zwei Hälften. Die eine ist ein mehr oder weniger reines Wohngebiet, die andere ist für den Konsum.«
»Aber warum nehmen sie denn nicht eine der Brücken?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht macht sie ihre Suche nach den schönen Dingen ihres alten Lebens blind? Vielleicht rufen auf der anderen Rheinseite aber auch andere Kräfte nach ihnen, und sie folgen diesem Ruf blindlings.«
»Sie glauben also auch nicht, dass diese Dinger lernen können, oder?«
Stark neigte den Kopf zur Seite.
»Ich weiß es nicht, mein Sohn.«
»Kommt ihr jetzt endlich, oder wollt ihr noch eine Weile die schöne Aussicht genießen?«
Die beiden sahen zum Ende der Brücke. Sandra stand dort schon fast unter dem letzten Bogen, die Fäuste in die Hüften gestemmt. Frank und Stark sahen sich kurz an, dann machten sie sich auf den Weg. Plötzlich winkte Sandra hektisch. Frank runzelte die Stirn.
»Ist ja gut, wir kommen schon«, brummte er verdrossen.
Sandras Gesten wurden immer hektischer. Warum rief sie denn nicht? Frank wandte sich zu Stark um, der so nah hinter ihm ging, dass er ihren bisherigen Weg nicht erkennen konnte.
»Wissen Sie, was sie will?«
»Nein.«
Frank wandte sich wieder nach vorne, als eine Windböe einen intensiven Schwall süßlich fauler Luft mitbrachte. In diesem Moment sah er, wie Sandra hektisch auf ihn und Stark deutete und ihre Waffe zog. Frank wirbelte herum, stieß den Pfarrer zur Seite, sah die Brücke entlang … und erstarrte.
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