Die Lippen in ihr Haar gepresst, flüsterte er unzählige Male: »Es darf sich nicht wiederholen, Krümel, es darf nicht sein.«
Klara sagte nichts, wusste sie doch, es würde sich wiederholen, immer und immer wieder, bis ans Ende ihrer Tage. Da war sie sicher! Sie konnte auch nichts Unrechtes daran entdecken. Lächelnd schmiegte sie sich an ihn und glaubte an eine gemeinsame, glückliche Zukunft.
Die beiden bewahrten ihr Geheimnis gut. Der Übergang von der geschwisterlichen Zuneigung in eine intensive Liebesbeziehung blieb der Mutter verborgen. Ihr Arbeitsplatz an der Rezeption eines Hotels erforderte häufig ihre häusliche Abwesenheit bis nach Mitternacht. Klassenkameraden der Geschwister spürten zwar eine Veränderung, eine Isolation, maßen ihr aber keine weitere Bedeutung bei. Die Geschwister genügten einander. Nicht allein die körperlichen Berührungen fesselten sie, sondern vielmehr das Bedürfnis miteinander zu erfahren, zu gestalten und beieinander zu sein.
Die inzwischen vierzehnjährige Klara hatte eine Idee. Sie wollte mit ihrem Bruder fortgehen in ein fremdes Land, wo niemand wusste, dass sie Geschwister waren. Kindliche, unrealistische Träume, die ihre Liebe beschützen sollten.
Christopher war fast neunzehn Jahre, ein attraktiver, verschlossener, junger Mann, kurz vor dem Abitur. Die Mädchen umschwärmten ihn. Vielleicht gerade, weil er sich so unnahbar und unerreichbar gab.
Klara war nicht eifersüchtig, sie war sich seiner und ihrer Liebe so sicher. Niemals würde er sich einem anderen Mädchen zuwenden, das wusste sie genau. Es war schließlich schon immer so und würde auch immer so bleiben.
Es war ein Sonntag. Am Morgen ließ noch nichts die Tragödie ahnen.
Aber als Christopher erklärte, er wolle mit Schulfreunden den Nachmittag verbringen, um gemeinsam an einem Referat zu arbeiten, wurde Klara zum ersten Mal misstrauisch, denn sein Ton war ihr fremd. Ein für sie unbekanntes Gefühl, eine Mischung aus Verlustangst und Ungläubigkeit überkam sie. Sie sagte zwar nichts, schaute ihn nur ernst an. Er vermied ihren Blick.
Die Mutter hingegen, völlig ahnungslos, begrüßte das Vorhaben. Christopher durfte und sollte die Verantwortung für seine kleine Schwester längst abgelegt haben. Sie war ihrem Sohn so dankbar. Er hatte es ihr in der Vergangenheit ermöglicht, beruhigt der erforderlichen Arbeit im Hotel nachzugehen.
Am frühen Nachmittag verschwand Christopher. Klara spürte immer deutlicher, dass etwas nicht stimmte. Christopher verlangte es in letzter Zeit spürbar seltener nach ihrem gemeinsamen Sex, er versuchte, es beim Kuscheln zu belassen.
Bald nach seinem Aufbruch radelte Klara ziellos durch den Ort. Sie suchte ihn, ihr Herzschlag beschleunigte sich, eine diffuse Angst hatte von ihr Besitz ergriffen. Ihren Bruder oder sein Fahrrad entdeckte sie nicht. Systematisch fuhr sie die Wohnungen seiner Klassenkameraden ab, soweit ihr diese bekannt waren. Erfolglos!
Sie sah Jörg an der Eisbude stehen. Er war mit Christopher im letzten Jahrgang der Oberstufe. Sie fragte ihn nach ihrem Bruder. Er grinste, hob kurz die Schultern, um dann mit dem Daumen in Richtung Primelwald zu zeigen.
Etwas ließ Klaras Herz noch lauter klopfen, etwas verstärkte ihr Angstgefühl ins Unermessliche, als sie wie gehetzt zum Wäldchen radelte.
Am Primelwald angekommen, sah sie sofort Christophers Fahrrad gegen eine junge Birke gelehnt. Aber da war nur ein Fahrrad, wieso? Wo waren die Fahrräder der Freunde? Klara legte ihr Rad ins Gras und betrat den Wald.
Mit schlafwandlerischer Sicherheit schlug sie die Richtung zu dem Platz ein, wo sie an Chris siebzehntem Geburtstag gestürzt war. Wo sie sich zum ersten Mal darüber klar geworden war, dass nichts und niemand sie von Christopher je trennen konnte oder durfte.
Schon bevor sie diesen Ort erreichte, hörte sie von dort Geräusche, deutlich die vertraute Stimme ihres Bruders und eine fremde, weibliche.
Klara presste die Hand auf den Mund, um nicht aufzuschreien.
Sekundenlang blieb sie stehen, dann zog sie die Sandalen von den Füßen und schlich näher an die beiden heran.
Die Situation war eindeutig. Ein fremdes Mädchen lag dort. Ausgerechnet dort und in den Armen von ihrem Christopher! Sie entweihten ihren Ort. Mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen schaute Klara gebannt auf die für sie unfassbare Szene.
Das Mädchen war schön und deutlich älter als Chris. Ihre makellosen, langen, nackten Beine waren eng mit seinen verschlungen. Sie lagen nebeneinander, streichelten sich und flüsterten zärtliche Worte. Manchmal war das helle Lachen der Fremden zu hören.
Es dauerte eine Weile, bis Klara sich von dem Anblick lösen konnte. Das Erschrecken hatte sich in Gefühllosigkeit verwandelt. Sie schlich zurück zu ihrem Fahrrad.
Der Schock löste sich. Im Takt mit dem Tritt auf die Pedalen schrie ihr Herz immer und immer wieder: »Ver-rat, Ver-rat, Ver-rat!« Wie konnte das geschehen? Warum verriet er ihre Liebe? Nein, nicht er. Sie, die Fremde war schuld.
Klara schlich in ihr Zimmer. Wartete auf die erlösenden Tränen, die nicht kommen wollten. Später kühlte sie im Bad das brennende Gesicht und den rasenden Puls. Sie legte sich ins Bett und starrte an die Decke.
Da Mutter Klaras Heimkommen nicht bemerkt hatte, schaute sie in deren Zimmer, um mit ihr zu plaudern und ihr eine gute Nacht zu wünschen. Ihre Tochter lag zitternd da, Unverständliches redend, die Bettdecke bis unter das Kinn gezogen.
Der herbeigerufene Arzt diagnostizierte eine beginnende fiebrige Erkältung, Mutter nahm sich einen Tag frei, brachte Zwieback und Kamillentee. Klara erbrach jede Nahrung.
Erst zwei Tage später ließ sich Chris an ihrem Krankenbett sehen, schweigend. Er ahnte, was Klara gesehen hatte. Liebevoll, mit besorgtem Blick hielt er ihre Hände. Auch sie sagte nichts und hielt die Augen geschlossen. Er erhob sich, um das Zimmer zu verlassen. Klara wollte, dass er ihr das Geschehene erklärte. Sie rief ihn zurück. Sein Blick war schuldbewusst. Seltsamerweise wirkte das tröstend und gleichzeitig erschreckend auf sie. Zögernd setzte Chris sich wieder auf die Bettkante.
Mit zitternder Stimme begann Klara das Gespräch: »Ich weiß alles, Chris.« Er nickte, nahm wieder ihre Hände, um sie zaghaft zu streicheln.
Dann sprach er darüber, wie sehr er darunter litt, verbotenerweise seine Schwester zu lieben und zu begehren. Dass es nie mehr geschehen dürfe und würde.
Er wollte ja immer für sie da sein, er würde sie immer lieben. Niemand könnte ihren Platz in seinem Herzen einnehmen. Aber berühren würde er sie nur noch, wie eben ein Bruder seine Schwester berühren darf. Ja, er liebte seit Kurzem eine junge Frau. Für diese Liebe müsse er sich nicht schämen. Sie hatte nichts Verbotenes, er bräuchte sie nicht zu verheimlichen.
Was zwischen Klara und ihm geschehen war, sollten sie beide als großes Geheimnis bewahren, schon aus Rücksicht auf die Mutter. Es wäre gut und richtig, wenn auch Klara sich einem anderen jungen Mann zuwenden würde.
Klara schwieg. Christopher erhob sich müde und verließ das Zimmer.
Sie hatte ihn verstanden, aber etwas in ihr weigerte sich, die Worte zu begreifen.
Kaum etwas behielt ihr Magen bei sich, sie verlor an Gewicht. Der Arzt war ratlos. Christopher pflegte sie aufopferungsvoll, gab ihr löffelweise zu trinken. Manchmal las er ihr vor, Kindermärchen, die sie noch immer so liebte. Manchmal trocknete er mit einem Bettzipfel behutsam ihre lautlosen Tränen. Sie aber vermisste schmerzlich diese anderen Berührungen von ihm.
Irgendwann siegte der Überlebenswille. Sie behielt die Nahrung wieder bei sich und verließ das Bett. Christopher half ihr bei den ersten Gehversuchen. Er und Mutter waren glücklich über die Genesung.
Doch etwas in ihr war zerbrochen.
Christopher sprach nie mehr über seine Freundin. Er war liebevoll und aufmerksam zu Klara, vermied aber jede körperliche Berührung.
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