Der Nachtisch war eine tägliche, aufregende Überraschung. Er befand sich in einer bestimmten, fest verschlossenen Schale im Kühlschrank.
Einmal kalte Pfannkuchen, ein anderes Mal Schokopudding oder Joghurt. Manchmal frisches Obst oder selbst gebackene Kekse. Um den ersten eines Monats war bisweilen eine halbe Tafel Schokolade in der Schale. Aber erst gab es die Suppe. Diesbezüglich war der Bruder unerbittlich verantwortungsbewusst.
Dieses Mittagsritual gehörte nur Klara und Christopher. Als Klara noch jünger war, hätte sie gerne gegen die Regel mit dem Nachtisch verstoßen. Der Bruder konnte ihr glaubhaft erklären, dass der Papa aus dem Himmel alles sehen konnte und es ihn ganz traurig stimmen würde.
Nach dem Essen hatte Klara sich beruhigt. Sie durchdachte die Forderung der Jungen und hoffte, eine Lösung zu finden. Jedenfalls durfte sie ihrem Bruder nichts von der Bedrohung erzählen. Womöglich würden die bösen Jungen ihm sonst auch die Kehle durchschneiden. Sie musste versuchen, ihn zu schützen.
Es fiel ihr schwer, sich auf die Hausaufgaben zu konzentrieren. Immer wieder schweiften die Gedanken ab und kreisten um den kommenden Tag.
Im Hof lärmten Christopher und ein Nachbarjunge. Sie ging zum Fenster, drückte ihre Nase gegen die Glasscheibe und schaute eine Weile deren Ballspiel zu.
Meistens hielt ihr Bruder sich in ihrer Nähe auf. Stets war er zur Stelle, wenn sie ihn brauchte. Nur in der Schule und auf dem Hin- und Rückweg war das nicht immer möglich. Demnächst musste er ohnehin die Schule wechseln, seine Grundschulzeit war vorüber. Daran mochte Klara gar nicht denken.
Am nächsten Tag hatte Christopher zwei Stunden später Schulschluss als sie. Auf dem Schulgelände durfte sie sich nicht aufhalten, um auf ihn zu warten. Ängstlich machte sie sich auf den Heimweg.
Nach dem Passieren der mannshohen Hecke von Lehrer Köpels Garten wäre sie gerettet, aber noch hatte sie den Weg vor sich. Die Hecke wirkte heute besonders bedrohlich. Lange Schatten fielen auf den Gehweg. In der Biegung, tief in die Hecke gedrückt, lauerten sie meistens. Angst lähmte ihre Schritte. Sie schaute angestrengt, konnte aber niemanden sehen. Endlich war sie am Ende der Hecke auf dem Marktplatz angekommen. Gerade wollte sie erleichtert aufatmen, da sah sie die beiden dort. Ein dritter Junge, kleiner und schmächtiger, stand bei ihnen. Sie hinderten ihn am Weitergehen, stießen ihn zwischen sich hin und her.
Klara nahm allen Mut zusammen und ging, ohne ihren Schritt zu beschleunigen, an ihnen vorbei. Das Blut pochte in den Schläfen, deutlich hörte sie ihren Herzschlag. Die Jungen schauten gelangweilt zu ihr herüber, zeigten heute aber kein weiteres Interesse.
In der folgenden Nacht stand sie, wie so häufig, mit ihrem Kissen unter dem Arm vor dem Bett ihres Bruders. Sie hatte schlecht geträumt. Schweigend schlug Christopher die Bettdecke zurück und legte seinen linken Arm so, dass sie sich in die warme, sichere Armbeuge kuscheln konnte.
Erst Jahre später erfuhr sie, dass ihr Bruder und ein paar Freunde dafür gesorgt hatten, dass die großen Jungen sie endlich in Ruhe ließen. Christopher hatte gespürt, dass sie etwas bedrückte. Er hatte alles herausbekommen, aber geschwiegen. Christoper redete nie viel.
Es geschah Jahre später, am zwanzigsten August, dem siebzehnten Geburtstag von Christopher. Mutter hatte Mohrenköpfe spendiert. Ihr Bruder durfte zwei Freunde einladen und Klara eine Freundin. Es wurde ein wunderschöner Tag. Sie waren zum Fluss geschlendert, hatten Steine hüpfen lassen. Heute hatten die Jungen die Mädchen nicht spüren lassen, dass sie für sie nur alberne Gänse waren. So jedenfalls drückten sich derzeit die Jungen in Klaras Klasse aus.
Nach dem Abendbrot und dem Heimgang der Freunde erlaubte Mutter ihren Kindern noch zwei weitere Stunden, um den Tag ausklingen zu lassen.
Klara und Christopher waren in den kleinen Primelwald gegangen, der sich gleich an ihren Garten anschloss. Klara hatte dem Wäldchen den Namen gegeben, weil sie dort vor Jahren eine himmelblaue Primel entdeckt hatte. Im Jahr darauf war die Blume verschwunden.
Die glutroten Strahlen der untergehenden Sonne durchdrangen vereinzelt das dichte Blattwerk, um auf dem Waldboden ein farbenprächtiges Lichtermeer zu zeichnen. Christopher nahm Klaras Hand fest in seine, wusste er doch, dass sie sich leicht fürchtete. Gleichzeitig genoss sie es, wenn eine Situation aufregend, gruselig, schön und spannend war, das Herz schneller klopfen ließ und Christian sie beschützend an die Hand nahm.
Nur das Knacken dünner Äste unter ihren Füßen war zu hören.
Klaras linker Fuß verfing sich in der Wurzel eines umgestürzten Baumes. Sie stolperte und fiel so unglücklich, dass die Bluse über ihrer Brust zerriss, Zweige hinterließen blutige Striemen. Sekundenlang starrte Chris untätig auf sie herab, bevor er ihr half aufzustehen.
Seine Hände verbrannten ihre Haut. Sein Blick verriet Ungläubigkeit. Ohnmächtig die Berührung zu lösen, schaute er sie erschrocken an. Da umschlang Klara ganz fest seinen Nacken, so wie sie es schon tausendmal zuvor getan hatte und doch war es anders. Mit ungläubigem Blick half Christopher seiner Schwester sich hinzusetzen und den Kopf gegen einen Baumstamm zu lehnen. Wortlos setzte er sich neben sie, bettete seinen Kopf auf ihrer Schulter.
Seine Lippen berührten erst zaghaft ihren Hals, dann ihr Gesicht und ihre Brust, um zurückzufinden, zu ihrem Mund und sich dort endlos zu verlieren im Spiel ihrer Zungen. Klara fühlte sich zu den Sternen getragen, ihre Hände liebkosten den Bruder, hielten auf seinen Wangen inne, als sie fühlte, dass er weinte.
Der Primelwald, der Ort ihrer kindlich verspielten Nachmittage, der Ort der Cowboy- und Indianerspiele hatte für sie eine andere Bedeutung bekommen.
Es dunkelte, als sie schweigend nach Hause gingen.
An den folgenden Tagen vermied Christopher es, längere Zeit mit Klara allein zu sein. Sie verstand ihn nicht. Warum? Sie wollte nicht wahrhaben, dass Berührungen, die so wundervolle Gefühle hervorriefen, verboten sein sollten, weil sie Geschwister waren. Gefühle, die nur ihnen gehörten! Sein Verhalten schmerzte sie. Schämte er sich? Sie liebten sich doch, hatten sich schon immer lieb gehabt. Wo war denn da der Unterschied? Für Klara gab es ihn nicht. Sie empfand keine Scham. Jahrelang hatten sie sich berührt, sich im Bett aneinander gekuschelt, waren fest umschlungen eingeschlafen.
Und doch, etwas war anders. Aber was genau war es? Warum sollte oder durfte es nicht sein?
Es verging eine Woche, bis Klara die Möglichkeit fand, mit Christopher darüber zu reden.
Mutter war ins Konzert gegangen. Sie waren allein im Haus. Er konnte ihr nicht mehr ausweichen. Von Klara kam die traurige, uralte Frage: »Liebst du mich denn nicht mehr?« Christopher schaute seine Schwester unglücklich an und zog sie mit einem leisen Aufschrei in seine Arme.
Grenzenlose Liebe überkam Klara. Nun wollte sie seine jahrelange Aufgabe übernehmen, wollte ihn trösten und beschützen. Während ihre Hände seinen Rücken streichelten, flüsterte sie besänftigende Worte. Aber es gelang ihr nicht, ihn zu beruhigen. Da nahm sie zum ersten Mal ihren Bruder an die Hand, führte ihn in sein Zimmer und zu seinem Bett.
Die folgenden Zärtlichkeiten waren selbstverständlich, waren Gesetz und unabwendbar. Sie hatten nicht die Leidenschaft füreinander entdeckt, sie waren die Leidenschaft, überirdisch, kraftvoll und unverwundbar. Die Suche nach der absoluten Nähe ließ keine andere Handlungsweise zu. Auch der Schmerz gehörte ihnen.
Monate vergingen.
Immer wieder lag Klara in den Armen ihres Bruders.
Sie war glücklich.
War er es auch? Sie versuchte in der Dämmerung des späten Abends oder des frühen Morgens, seine Miene zu deuten.
Читать дальше