„Der Begriff der ‚Zivilisationskrankheit‘ ist insofern missverständlich, als dass eine verbesserte soziale und ökonomische Infrastruktur nicht automatisch Krankheiten nach sich zieht, sondern – im Gegenteil – eine Verbesserung der medizinischen Versorgung bedeutet. Zivilisationskrankheiten werden nicht durch die Zivilisation selbst, sondern durch einen ungesunden, der menschlichen Physiologie nicht entsprechenden Lebensstil verursacht...“ (flexikon.doccheck.com)
Doch was hilft schon der gutgemeinte Hinweis, dass eine „Infrastruktur“ „nicht automatisch“ krank macht, sondern immer noch jemand dazugehört, der tatsächlich „ungesund“ lebt? Wenn der entsprechende „Lebensstil“ eine so hohe „Inzidenz“ aufweist und dessen gesundheitliche Folgen einen so „wahrscheinlichen Zusammenhang mit den Lebensgewohnheiten bzw. -verhältnissen“ in den „Industrieländern“, dann wird der Stil schon zu den Verhältnissen passen. Und am Ende ist dann doch gar nicht so entscheidend, wie sich einer den Umgang mit seinen Existenzbedingungen zurechtstilisiert – sehr individuell scheint das ja ohnehin nicht zu gelingen –, sondern was der Mensch im Rahmen seiner stilvollen Lebensführung tagaus tagein zu bewältigen hat.
Fest steht jedenfalls, statistisch ordentlich ermittelt: Es ist relativ überschaubar, woran die Masse der industrialisierten Wohlstandsbürger in der zivilisierten Welt typischerweise zu leiden und zu sterben pflegt:
„Eine relativ kleine Gruppe von Erkrankungen ist für einen Großteil der Krankheitslast in Europa verantwortlich. Von den sechs WHO-Regionen ist Europa von nichtübertragbaren Krankheiten am stärksten betroffen, und ihr Anstieg ist erschreckend. Die praktische Bedeutung der am stärksten verbreiteten nichtübertragbaren Krankheiten (Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebserkrankungen, chronische Atemwegserkrankungen und psychische Störungen) ist ebenso alarmierend: Zusammengenommen machen diese fünf Krankheiten geschätzte 86 % der Todesfälle und 77 % der Krankheitslast in der Europäischen Region aus.“ 1)
Der Befund dürfte weder Zufall sein noch Folge eines massenhaften Beschlusses, mit eigentlich ganz gut verträglichen europäischen Lebensbedingungen konsequent unvernünftig umzugehen. Er verweist auf Belastungen, und zwar sehr stereotype, die diese zivilisierten Verhältnisse ihren Insassen zumuten, deren Bewältigung die sich auch selber im Rahmen eines ebenso stereotypen Lebensstils abverlangen – und die auf Dauer eben nicht auszuhalten sind. Welche Belastungen und welche Leistungen das sind, das ist an den pathologischen Folgen manchmal noch deutlich zu sehen und manchmal auch nicht. Insgesamt sprechen die „Volksseuchen“ deutlich genug für sich – sollte man meinen.
1. Moderne Krankheitsbilder
Den seit Jahrzehnten ungeschlagenen Spitzenplatz der beliebtesten Todesursachen halten die Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Obwohl die Medizin hier viel im Griff hat, das Legen von Herzkathetern heutzutage zu den Routineuntersuchungen der Kardiologen zählt, Bypässe, Stents und Shunts haufenweise verlegt werden und – laut einschlägigen Studien – schon so manche salzarme Diät einen Bluthochdruck verhindert haben soll, sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen nach wie vor „in Deutschland nach Angaben des Statistischen Bundesamts aktuell für 41 Prozent aller Todesfälle verantwortlich – und damit die mit Abstand häufigste Todesursache“ (H. Greten; Innere Medizin, 2010, S. 253).
Grundlage ist eine höchst unbekömmliche Beanspruchung von Herz und Kreislauf: Anstrengung, unmittelbar physischer oder psychischer Art, verlangt eine erhöhte Pumpleistung des Kreislaufs, die durch schnellere Herzfrequenz und kräftigere Kontraktion des Herzmuskels auch prompt realisiert wird. Resultat von alldem ist ein erhöhter Blutdruck, der für sich kein Malheur ist, insofern er durch eine ausreichende Entspannung wieder sinkt. Ist die Erregung und die daraus folgende Blutdruckerhöhung aber von dauerhafter Natur, dann reagieren die Gefäße in der Kreislaufperipherie selbst mit einer Engstellung sowie Gefäßverdickung und „fixieren“ schließlich so den hohen Blutdruck, machen ihn also irreversibel, unabhängig von der tatsächlichen Belastung. Die Entstehung eines Bluthochdrucks ist daher Ausweis dessen, dass eine Anstrengung so lange ausgehalten wurde, bis sie in eine Überlastung übergegangen ist und sich die Anspannung deswegen physisch als Krankheit manifestiert. Dieser Umstand wird in medizinischen Standardwerken so ausgedrückt:
„Ein Hochdruck entsteht demnach durch Erhöhung von HZV (Herzzeitvolumen) oder TPR (totaler peripherer Widerstand) oder beidem… Die HZV-Vergrößerung beim hyperdynamischen Hochdruck beruht entweder auf einer gesteigerten Herzfrequenz oder ... einem erhöhten Schlagvolumen... Auch eine zentralnervös verursachte Erhöhung der Sympatikusaktivität ... [kann] das HZV ansteigen lassen... Zur Vasokonstriktion kommt es bei einer erhöhten Sympatikusaktivität... Auch autoregulatorische Vorgänge beinhalten Vasokonstriktion. Steigt z.B. der Blutdruck durch Erhöhung des HZV, so ‚schützen‘ sich viele Organe (z.B. Niere, Magen-Darm-Trakt) vor diesem hohen Druck. Dies ist für die häufige vasokonstriktorische Komponente des hyperdynamischen Hochdrucks mitverantwortlich, der dadurch in einen Widerstandshochdruck übergeht. Dazu trägt auch eine Hypertrophie der vasokonstriktorischen Muskulatur bei. Schließlich stellen sich als Folge des Hochdrucks Gefäßschäden ein, die den TPR erhöhen (Fixierung des Hochdrucks).“ (W. Siegenthaler; Klinische Pathophysiologie, 2006, S. 222)
Dann und dadurch wird der Betroffene zum Hochdruckpatienten, bei dem infolge einer dauerhaften Blutdruckerhöhung im ganzen Körper „klinische Folgeerscheinungen wie koronare Herzkrankheit (KHK, angina pectoris, Herzinfarkt, akuter Herztod), zerebrovaskuläre Insuffizienz (Schlaganfall) und periphere arterielle Verschlusskrankheit“ auftreten (H. Greten; a.a.O., S. 40).
„Nach den Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind bösartige Erkrankungen die zweithäufigste Todesursache in der westlichen Welt... Fast jeder Zweite erkrankt inzwischen an Krebs und jeder 4. bis 5. Bürger stirbt an dieser Erkrankung.“ (W. Siegenthaler; a.a.O., S. 1101)
So verschieden Krebserkrankungen je nach Typus des „bösartigen“ Gewebes sich darstellen, gemeinsam ist den meisten ihr Ursprung: Kanzerogene schädigen die Erbinformation der Zelle, am Ende irreversibel. Und die Liste der bekannten Kanzerogene, mit denen die Massen in einer blühenden Industrienation wie der unsrigen jahrein jahraus konfrontiert werden, wird von Jahr zu Jahr eher länger als kürzer. Krebs entsteht, wenn eine durch Mutation der DNA verursachte irreversible Regulationsstörung des Zellzyklus dazu führt, dass eine Zelle entartet, sich also unentwegt teilt. „Dabei spielen sowohl die Intensität als auch die Dauer der zur malignen Entartung führenden Schädigung eine Rolle.“ (H. Greten; a.a.O., S. 953 f.) Da die Zelle in ihrer Erbinformation über vielerlei Regulations- und Reparaturmechanismen verfügt, so dass auch und gerade bei deren Schädigung die Mutation nicht auf die Tochterzellen übertragen wird, müssen sich zur Entartung eines Gewebes in der Regel mehrere Mutationen akkumulieren; dann kann der Schaden selbst durch den regulierten Exitus der einzelnen Zelle nicht mehr behoben werden. 2)
„Bis zu 20 % der bundesdeutschen Bevölkerung (mit steigender Tendenz) leiden an Allergien... Damit gehören Allergien zu den häufigsten Erkrankungen in Ländern mit hohem Lebensstandard.“ (Dieses und die folgenden Zitate aus: H. Greten; a.a.O., S. 1082 ff.)
Eine Allergie entsteht, wenn ein Organismus auf einen einzelnen oder eine ganze Reihe von Stoffen aus der Natur oder der zivilisierten Welt, die sogenannten Allergene, mit einer überschießenden Immunantwort reagiert, weil er der Belastung durch sie nicht oder nicht mehr standhält und sich deswegen seine „immunologische Reaktionsbereitschaft“ verändert:
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