Wie schon erwähnt, verfügte ich nur über ein geringes Taschengeld, weil das Lehrlingsheim natürlich auch Geld gekostet hat. Demnach war nicht viel mit Ausgehen. Ich habe viel Zeit damit verbracht, mich zum Beispiel intensiv mit theoretischen chemischen Zusammenhängen, wie dem Aufbau von Struktur- und Summenformeln, zu beschäftigen. Das Lehrfach Chemie war ja vorher in der Hauptschule absolut nicht mein Ding gewesen. Ich musste mich schon ziemlich reinhängen. Gegenüber meinen Mitauszubildenden habe ich viel Zeit im Wohnheim verbringen müssen. Einen Vorteil hatte es: Ich lernte hier gut Skat spielen, was ich noch heute regelmäßig sehr gern tue.
Die Ausbildung, fand, so wie heute, im Block statt sowie in der Berufsschule und in wechselnden Produktionsstätten mit angeschlossenen Laboratorien. Ich weiß es noch genau, mein erster Betreuer hat mir das Umgehen mit dem Rechenschieber beigebracht. Für die heutige Zeit undenkbar. Die junge Generation weiß nicht, was ein Rechenschieber darstellt. Einfache Taschenrechner waren gerade erst auf dem Markt. Da ich auch nicht gerade ein Mathegenie war, hat er mir erst einmal den einfachen Dreisatz und Prozentrechnen zu Gemüte geführt – eine sehr nachhaltige Erfahrung. Deswegen beherrsche ich bis heute im täglichen Leben diese Grundrechenarten immer noch sehr sicher. Dafür bin ich ihm immer noch äußerst dankbar.
Während der praktischen Ausbildung und der Berufsschule lernte ich einem bemerkenswerten Menschen kennen. Er wor ne echt kölsche Jung us Köln Weidenpesch (bekannt durch die Pferde-Galopprennbahn). Wir trafen uns meistens in der Mittagspause. Da gab es in der Regel nur ein Thema. Denn er war ein eingefleischter Eishockeyfan – konkret vom Kölner Eishockeyclub. Zu dieser Zeit ging es um die Neuausrichtung der deutschen Eishockeyklubs und zum ersten Mal sollten die Klubs auch spezielle Namen erhalten. Die Kölner sollten ab 1972 künftig „Kölner Haie“ heißen.
Mein guter Freund wollte mich immer zu einem Spiel mitnehmen. Doch ich hatte einfach kein Interesse an diesem Sport. Im Fernsehen kannst du kaum den Spielverlauf verfolgen, geschweige einen Torschuss sehen. Doch er war sehr hartnäckig. Ich bin dann irgendwann einfach ihm zuliebe mal mit gegangen.
Doch ich war beim ersten Mal im Eisstadion mehr als erstaunt, nein, eher fasziniert. Das Geschehen auf dem Eis, der schnellste Mannschaftssport der Welt. Ich fand das einfach genial. Von dem ersten Besuch an war ich regelmäßig im Eisstadion. Die Kölner Haie haben mich – bis heute – mein ganzes Leben begleitet und haben mir in tiefen depressiven Stunden Freude, Ablenkung und neuen Auftrieb gegeben. Die Kölner Haie sollten im späteren Verlauf meines Lebens eine Therapieform für meine Depressionen sein.
Tipp: 
Oft ist es gar nicht so einfach, etwas zu unternehmen, was Freude macht und damit zur Ablenkung führt. Etwas noch Unbekanntes auszuprobieren und sich von anderen „mitnehmen“ zu lassen, kann zu einem angenehmen Erfolgserlebnis führen und ein positives Gefühl auslösen.
Die Berufsausbildung in einem Weltunternehmen und das Arbeiten in einem Chemielabor waren für mich die richtige Entscheidung. Es hat mir wirklich sehr viel Spaß gemacht. Nach dem erfolgreichen Abschluss mit sehr guten Noten bin ich dann in das Angestelltenverhältnis übernommen worden.
Zu dieser Zeit habe ich mit drei Mitbewohnern das Lehrlingsheim verlassen und mit noch zwei weiteren Freunden ein ganzes Haus gemietet. Damit wurden in meinem Leben die Weichen ein weiteres Mal neu gestellt. Ab dem Jahr 1973 sollten spektakuläre Jahre in einer Wohngemeinschaft beginnen.
3. Wohngemeinschaft und Weiterbildung
Mit der Halbpension im Lehrlingsheim war es nun vorbei. Ab sofort hatten wir alle mit Wäschewaschen, Kochen und Putzen zu tun. Dafür hatten wir jetzt deutlich mehr Freiheiten.
Mit der Anweisung, um 22.00 Uhr zu Hause sein, war es nun glücklicherweise vorbei. Mit unseren restriktiven Budgetplanungen waren Einkäufe nur im Aldi möglich – damals noch im kartonweisen Sortiment. Nur das Bier musste schon einen hohen Qualitätsstandard haben. Jeder kam den notwendigen Aufgaben nach, sodass schnell eine enge Gemeinschaft entstand. Für unseren zentralen Ölofen, der in der Küche stand, hatten wir allerdings nur einen Spezialisten ausgewählt. Im Winter, mindestens einmal im Monat, kam es zu einer Feinstaubexplosion. Küche und Wohnzimmer standen im Rußnebel. Nur unser Spezialist konnte das Gerät wieder in Gang setzen. Wir anderen duften den klebrigen Ruß überall entfernen – eine großartige Aufgabe, und das immer wieder. Hier rühren auch folgende Ausrufe der Verärgerung beziehungsweise der Aufregung her. „Martha die Axt“ und „Mann die Karre“, die bis heute noch in den Folgegenerationen zum Einsatz kommen.
3.1 „44“ – für immer unvergesslich
Das Evergreen „In unserem Veedel“ von der Kölner Gruppe De Bläck Fööss wurde zu unserem WG-Motto-Lied. Der Refrain „… denn hier hält man zusammen, in unserem Veedel …“ wurde auf die Hausnummer unseres kleinen Häuschens umgewidmet, nämlich „44“. Wenn wir uns heute irgendwo treffen, wird das Superlied immer noch geschmettert. „44“ bekam schnell einen hohen Bekanntheitsgrad im Leverkusener Stadtteil Schlebusch. Im Erdgeschoss unseres Hauses hatten wir auf Dauer zwei Partyräume eingerichtet, in denen nicht – wie im Lehrlingsheim – um 22.00 Uhr Sperrstunde war, sondern immer der Bär von der Kette war. Regelmäßig an den Wochenenden hatten wir legendäre Feiern und das Haus voller Gäste. Unser Bekanntenkreis wurde ständig größer. Hinzu kamen die Sommerfeste im großen Garten hinter dem Haus als Highlight. Dabei herrschte eine Art Volkfeststimmung, wobei nicht nur Hunderte von Menschen, sondern auch Hunderte Liter Bier – gepaart mit vielen Flaschen Persiko (ein damals beliebter Likör aus Sauerkirschsaft) – anwesend waren. Das war selbstverständlich vorher und nachher viel Arbeit und Organisation für uns alle. Doch wir Jungs aus „44“ hatten alle einen Riesenspaß daran, anderen eine Freude zu bereiten.
Wie bereits im Lehrlingsheim, durfte ich für die passende Musik zum richtigen Zeitpunkt sorgen. Ziel war dabei immer, die Mannschaft in Wallung und auf die Tanzflächen zu bringen. Irgendwie ist mir das immer gelungen; auch viel später, bei Feiern im Berufsleben oder privaten Bereich. Das Equipment waren damals lediglich geschickt aufgenommene Musikkassetten und Schallplatten.
Ja, „44“ ist, bis heute nach 50 Jahren, ein Pseudonym für Freundschaft, Kameradschaft und Einheit. Alle ehemaligen Bewohner leben heute verstreut in ganz Deutschland und Europa. Wenn dann alle fünf Jahre zu einem Treffen aufgerufen wird, dann ist es nur eine Frage der Ehre und der gemeinsamen Erinnerung und alle laufen selbstverständlich ein. „44“ war nicht nur bekannt als Partymeile im Stadtteil Schlebusch. Hier war auch die Wiege weiterer Bildung und späterer Hochschul-/Universitätsstudien. Drei von uns arbeiten später in gehobenen Stellungen bei großen Chemieunternehmen. Einer von uns ist selbstständiger Zahnarzt. Doch eins nach dem anderen.
3.2 Endlich etwas nachholen
Während mein Zimmernachbar und ich noch unserem erlernten Beruf bei Bayer nachgingen, besuchten die anderen beiden die Fachoberschule und begannen schließlich ein Chemiestudium. Durch ihr Vorbild und ihren Bildungsweg wurden wir zwei Hauptschüler motiviert, zunächst einmal die Mittlere Reife nachzuholen. Das war doch schon mal etwas. In der Praxis bedeutete der Weg, berufsbegleitend, zwei Jahre lang dreimal in der Woche in die Abendschule. Das war eine harte Zeit, nach der Arbeit bis 21.00 Uhr die Schulbank drücken. Es war sehr kräftezehrend und brachte in unserem Privatleben enorme zeitliche Einschränkungen. Ich hatte mir damals schon fest vorgenommen, nie wieder irgendeine Weiterbildung regelmäßig am Abend durchzuführen. Doch es hatte, wie immer, auch einige wenige Vorteile.
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