»Ich sagte, dass ich sie mir ansehe. Sie ist tot, Clair!«
Die Amazone schüttelte den Kopf.
»Sie hat noch gelebt!«
»Du hast sie sterben lassen!«
»Molly war schon tot, als du sie gefunden hast! Es ist ein Wunder, dass sie noch wie ein Mensch aussieht und du keine Innereien von ihr an dir kleben hast!«
»Das ist eine Krankenstation und keine Bar! Außerdem ist es respektlos Molly und Rachel gegenüber. Raus! Alle beide!«
Clair verließ wütend das Krankenzimmer. Almyra brauchte einen Moment, ehe sie aufstand und noch einmal zu Rachel sah.
»Ich wollte das wirklich nicht so vor dir ausdrücken.«
Almyra trennte den Faden und blickte in den Spiegel. Es sah schlimm aus. Die Wunde war tief und würde wahrscheinlich eine große Narbe hinterlassen. Aber mehr als die Wunde nähen konnte sie nicht tun. Sie verließ die Werkstatt und suchte Sarah in ihrer Kajüte auf. Die schöne Frau schrieb irgendetwas in ein Buch. Wahrscheinlich hielt sie die aktuelle Finanzsituation der Crew fest. Wie sie in dieser Situation dazu in der Lage war, war Almyra ein Rätsel. Wahrscheinlich war das eine Art von Sarah, sich abzulenken. Kaum hatte Almyra die Tür hinter sich geschlossen, blickte Sarah sie an.
»Kannst du mir einen Gefallen tun?«
»Natürlich.«
»Wir werden noch über einen Tag brauchen, bis wir in Spanien ankommen. Ich würde Molly gerne an einen möglichst kühlen Ort bringen lassen.«
»Ich soll sie in die Schatzkammer bringen?«
»Aye.«
Die beiden Frauen verließen Sarahs Kajüte. Almyra sah zu der Zahlmeisterin.
»Clara?«
»Ja?«
Clara grinste.
»Du meinst, sie soll niemanden so zurichten wie dich?«
»Genau. Und halte sie von der Schatzkammer fern.«
»Sehr schlecht. Ihre Schwester hat ihr alles bedeutet.«
»Es ist ein Jammer.«
»Das ist es.«
Clara zog einmal tief an ihrer Zigarette und blies den Rauch aus.
»Denkst du, wir sollten sie in Spanien lassen, um zu trauern?«
»Das werden wir noch sehen.«
Almyra machte sich auf den Weg zur Schatzkammer, legte allerdings noch einen Zwischenstopp in der Werkstatt ein und nahm sich ihren Arztkoffer, ein paar Metallstäbe und andere Ausrüstung mit. Sie hatte viel Arbeit vor sich. Molly würde auch andere Kleidung brauchen. Aber konnte Almyra Rachel wirklich darum bitten, Klamotten für ihre tote Schwester herauszusuchen?
Almyra betrat die Schatzkammer ganz unten im Schiff. Molly lag schon auf einer Liege und daneben stand Sarah, die die weinende Rachel in den Armen hielt. Almyra seufzte.
»Danke. Den Rest schaffe ich alleine. Molly braucht noch Klamotten.«
»Ich finde bestimmt etwas Schönes.«
Sarah nickte zustimmend.
»Okay.«
»Es tut mir so leid«, wisperte sie, ehe sie begann, Molly zu entkleiden.
»Wenigstens musstest du nicht lange leiden, mh? Keine Sorge, ich richte dich wieder her.«
***
Die Amazone schloss die Augen und ließ alles noch einmal an sich vorbeiziehen. Der Moment, als der Schuss ertönte und Molly kurz darauf schreiend in die Tiefe stürzte. Clairs Herz hatte für einen kurzen Moment aufgehört zu schlagen, nur um danach schmerzhaft gegen ihre Brust zu hämmern. Sie hatte nicht mehr klar denken können. Die russische Marine, ihre Crew – alles vergessen. Da war nur noch Molly, die von Bord gestürzt war und gerettet werden musste.
Clair sah auf ihre linke Hand und entdeckte dort ein wenig Blut. Die Erinnerung daran, wie sie Almyra ins Gesicht geschlagen hatte, überkam sie. Was hatte sie nur getan? Ja, Almyra hatte sie vorgeführt, aber Clair wusste, dass sie nichts ohne Grund tat. Ihre Worte hatten einfach so unglaublich wehgetan. Die Amazone hatte dadurch sämtliche Selbstbeherrschung verloren und die Frau geschlagen, die ihr trotz allen Rückschlägen immer zur Seite stand. Natürlich war ihr bewusst, dass Almyra Molly gerettet hätte, wenn es die Möglichkeit gegeben hätte. Aber Clair konnte – wollte nicht glauben, dass Molly schon tot gewesen war, als sie sie gefunden hatte. Dass die Amazone sich das alles nur eingebildet hatte- Oder noch schlimmer, dass Molly noch gelebt hatte und in Clairs Armen gestorben war, während die Amazone nichts für sie hatte tun können.
Clair war so in Gedanken versunken, dass sie nicht mitbekam, wie es an der Tür klopfte und jemand den Raum betrat. Erst als sie Isabellas Stimme hörte, bemerkte sie, dass sie nicht mehr alleine war.
»Du musst nichts essen, aber tu mir den Gefallen und trink wenigstens etwas von dem Tee. Du hast so lange in der Kälte gesessen.«
»Wo ist Almyra?«
»Clair, ich glaube nicht…«, setzte Isabella zum Sprechen an, wurde jedoch von Clair unterbrochen.
»Wo ist sie?!«
»Sie kümmert sich um Molly. Aber ich werde dir nicht sagen, wo sie ist, sonst gehst du nur…«
»Spinnst du?!«, brüllte die Köchin entsetzt.
»Verpiss dich!«
»Clara! Wir müssen reden.«
Die Angesprochene zuckte zusammen und schickte die Küchenhilfe weg. Dann blickte sie missmutig zu Clair und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Was ist? Du hast Almyra und Isabella verletzt und ich habe nicht wirklich Lust, die Nächste zu sein.«
Diese Aussage ignorierte Clair einfach.
»Wo ist Almyra?«
»Das geht dich nichts an.«
Doch Clara zuckte nur mit den Schultern.
Die Rothaarige überlegte kurz.
Clair ließ Clara einfach stehen und wollte zur Schatzkammer gehen. Sarah stellte sich allerdings vor sie und blockierte somit die Leiter.
»Aus dem Weg.«
»Das geht dich nichts an.«
»Verdammt, lass mich durch, bevor ich mich vergesse! Ich will zu Molly!«
Sarah bewegte sich kein Stück. Sie schaute zwar eingeschüchtert zu Boden, trat aber nicht zur Seite.
»Wie kannst du das einfach so sagen? Sie ist deine Schwester!«
Der Krach hatte Almyras Aufmerksamkeit erregt. Sie kam die Leiter hochgeklettert.
»Was ist hier los?«
Die Angesprochene hob skeptisch eine Augenbraue.
»Was hast du mit Molly gemacht?!«
Almyra kletterte nach dieser Ansprache wieder zurück in die Schatzkammer. Clair war sprachlos. Mit so einer Reaktion hatte sie nicht gerechnet. Sarah sah die Amazone betrübt an.
»Ich bringe dich in deine Kajüte.«
»Das schaff ich schon alleine!«
Clair tat auch tatsächlich, was ihr gesagt worden war. Almyras Worte hatten sie völlig aus der Bahn geworfen. In ihrer Kajüte angekommen, setzte sie sich an ihren Schreibtisch. Auf dem Tablett mit dem Tee und der Suppe befand sich eine neue Tasse. Clair schenkte sich etwas Tee ein und trank einen Schluck. Warum wollte sie überhaupt so unbedingt zu Almyra und Molly? Jetzt, wo sie darüber nachdachte, verstand sie es selbst nicht mehr.
»Was willst du, Mary?«
»Ich möchte nur reden.«
»Sicher? Hast du keine Angst, dass ich dir eine reinhaue?«
Mary grinste.
Die Rudergängerin setzte sich auf Clairs Bett und deutete neben sich. Die Amazone murrte leise, setzte sich aber neben sie.
»Was soll ich schon großartig erzählen?«
Die ganze Nacht ließ sie sich auf diese Art von Mary trösten. Dennoch verließ ihre Lippen immer nur derselbe Name.
»Molly…«
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