Ihm gegenüber sitzt jemand beglückt und ermutigt auf der Heimfahrt von einem Treffen mit alten Freunden. Ein wunderschöner Ausflug. Wie verabredet hatten sie sich endlich nach langer Zeit getroffen. Spannend war es gewesen, wie es ihnen wohl heute miteinander gehen würde. Wie in alten Zeiten war es! Zwei großartige Tage, gefüllt mit Erinnerungen, erfüllt mit neuen Eindrücken und aufgefrischter Freundschaft.
Plötzlich klingelt irgendwo ein Handy. Laut! Eine grässliche Melodie. Sehr laut. Es klingelt wieder. Und wieder. Köpfe gehen hoch. Suchende Blicke wandern durchs Abteil. Warum nimmt niemand ab? Wo ist dieser Ruhestörer? Hartnäckig klingelt es weiter. Das nervt! Schlagartig liegt eine gereizte Spannung in der Luft. Drüben verdreht jemand die Augen. Mensch, nimm doch endlich ab! Das Klingeln zieht alle Aufmerksamkeit im Wagen auf sich. Schräg gegenüber steht einem der Ärger im Gesicht geschrieben. Woanders stöhnt jemand vernehmlich. Die dicke Luft ist greifbar.
Zum Kuckuck noch mal, hört das denn nie auf? Da ruft jemand laut in den Wagen hinein: „…“
„Telefon!“, ruft die Person ganz freundlich-fröhlich entspannt. Ein paar Umsitzende lachen. Und augenblicklich ist zu spüren, wie die gereizte Spannung abflaut.
(Ach ja, noch zweimal klingelte es. Dann war Ruhe im ICE!)
Menschen sind emotional vernetzt
Emotionale Dynamik wirkt systemisch, indem sie Menschen spürbar miteinander verbindet.
Die ICE-Passagiere in der Umgebung des klingelnden Telefons erlebten plötzlich, dass sie emotional miteinander verbunden waren. Unvermittelt bildeten sie eine „Schicksalsgemeinschaft“. Ein emotionales System war sichtbar und spürbar geworden zwischen Menschen, die einander gar nicht kannten. Solch ein emotionales System bildet sich prinzipiell, wo zwei oder mehr Menschen, absichtlich oder zufällig, zusammen sind. Es verbindet sie völlig unabhängig von ihrer Bekanntheit miteinander, ihrem sozialen Status, ihren funktionalen Rollen, die sie innehaben, oder einer Aufgabe, in der sie stehen. Es ist also unbedeutend, wer von den Reisenden im Zug Chef, Putzfrau, Umweltaktivist, Pfarrer, Urgroßmutter oder Studentin ist und ob hier auch noch ein Zugbegleiter in Ausbildung sowie die Zugchefin anwesend sind.
Emotionale Verbindungen sind energiegeladen und beweglich. Sie entfalten eine stärkere Wirkung als irgendeine formale Verbindung zwischen Menschen und dem, was ihnen individuell zugeschrieben wird. Zudem kann ein emotionales System auch über die Dauer des direkten Zusammenseins verbinden. Israel Galindo 2spricht in diesem Zusammenhang vom „verborgenen Leben“ einer Organisation. Anders gesagt, ob Familie, Partygesellschaft, Arbeitsteam, Freundesclique, Gottesdienstgemeinde, Vereinsvorstand, Hauskreis, Konzertbesucher – immer besteht hier zwischen den Personen eine – wie auch immer geartete – emotionale Verbindung.
Diese im Hintergrund wirkende emotionale Dynamik hängt wesentlich mit dem zusammen, was wir „Angst-Spannung“ nennen. Auf den ersten Blick wirkt der Begriff in diesem Zusammenhang etwas drastisch oder übertrieben, denn hier sind Ärger, Gereiztheit, Missstimmung aufgetreten. Doch sie gehören zu den Emotionen, aus denen Angst-Spannung 3besteht. Und das hat die verschiedenen Menschen im ICE plötzlich – mehr oder weniger bewusst – emotional miteinander verbunden.
Selbstverständlich kann so ein emotionales Feld auch in positiven Empfindungen wie Fröhlichkeit, Freude, Glück, Begeisterung, Anbetung etc. wirksam sein. Doch hier geht es uns jetzt um Erfahrungen und Gefühle, die eher „unbehaglich“ sind und in denen wir Stress erleben.
Angst-Spannung! Was ist das?
Angst-Spannung ist emotionaler Schmerz, der uns Gefahr signalisiert. Angst-Spannung existiert! Sie ist nicht moralisch zu bewerten.
Es gibt kein Leben ohne Ängste und Spannungen. Das gilt für jede einzelne Person genauso wie für jede Gruppe von Personen, also für jedes emotionale System. Und das ist gut so. Als emotionaler Schmerz signalisiert Angst uns Gefahr. Gewöhnlich werden dabei Angst und Furcht unterschieden.
Furcht ist konkret und klingt schnell ab, wenn das Licht angemacht wird und die Eltern unterm Bett nachschauen, ob dort wirklich kein Monster liegt. Und die Furcht vor einem Unfall klingt ab, wenn der Fahrer das Tempo des Wagens spürbar verlangsamt und umsichtiger fährt.
Angst ist unbestimmter, anhaltender. Sie geht jeden Tag mit einem ins Büro und wieder nach Hause, wenn unklar ist, ob und wie die Geschäftsentwicklung personelle Konsequenzen haben könnte. Angst vor dem Ungewissen und der Leere schleichen sich ein, nachdem die Freiheits- und Urlaubsgefühle der ersten Wochen des Ruhestandes allmählich vergehen.
Beides trägt insofern Angst-Spannung in sich, als die Betroffenen in der Situation angespannt, unwohl, innerlich unruhig und erregt eine Gefahr oder Unannehmlichkeiten erwarten und ihre Sicherheit und ihr Wohlergehen bedroht sehen.
Nun vermeiden viele Menschen lieber Begriffe wie Furcht und Angst. Sie erscheinen ihnen in einer bestimmten Situation als übertrieben oder sie (miss-)verstehen sie als Schwäche, die sie nicht zeigen möchten. Man würde jedoch vielleicht zugeben, „ein wenig angespannt“ zu sein.
Mit dem Kunstwort Angst-Spannung wollen wir die ganze Bandbreite von mulmigen Gefühlen wie Anspannung, Aufregung, Beunruhigung, Ängstlichkeit, Beklemmung, Besorgnis, Sorge, Furcht, Angst oder Panik abdecken. Die hier wirksame emotionale Kraft kommt jedoch aus dem, was das Wort Angst in seiner lateinischen Wortbedeutung beschreibt: angustus/angustia steht für „Enge, Beengung, Bedrängnis“. Was auch immer der Auslöser dafür ist, wir fühlen uns bedroht in unserer emotionalen Sicherheit oder körperlichen Unversehrtheit. Es spielt auch keine Rolle, wie real oder irreal die Gefahr für Leib und Leben ist. Auch eingebildete Gefahren lösen Ängste und Spannungen aus. Und Ängste drängen uns, eine lebensschützende und lebenserhaltende Lösung zu finden. Die klassische instinktive Reaktion auf Gefahr ist flüchten oder standhalten und kämpfen. Was Ängste und Spannungen auslöst und in welchem Maß das geschieht, ist von Person zu Person und von Gruppe zu Gruppe unterschiedlich.
Festzuhalten ist:
Angst-Spannung ist eine automatische Reaktion auf etwas, das wir – warum auch immer – als bedrohlich erleben. Im ICE war es nur die Ruhe und das ungestörte Lesen, Arbeiten, Träumen oder was auch immer der Passagiere, das gefährdet war. Es spielt keine Rolle, ob diese Bedrohung oder Gefahr real ist oder ob sie „nur“ in der Vorstellung existiert. Die eigene Kontrolle über das eigene Leben und Wohlergehen zu haben ist oder scheint bedroht.
Angst-Spannung beeinflusst unser Denken und unser Verhalten. Sie kann unsere Aufmerksamkeit und Wachsamkeit erhöhen, sie kann uns in unserem Handeln hemmen oder motivieren.
Angst-Spannung ist emotionaler Schmerz, der eine wie auch immer geartete Gefahr signalisiert. Das dient unserem Überleben. Insofern ist Angst-Spannung, je nach Sichtweise, Teil unserer Natur oder Teil von Gottes guter Schöpfung. Anders gesagt: Sie ist weder gut noch schlecht und ihr Auftreten ist schon gar nicht moralisch zu bewerten.
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