Kurz vor Weihnachten 1971 ahnte ich das so wenig wie die Tatsache, dass Nellcôte schon wieder Geschichte war: Richards und seine Entourage hatten das Anwesen im Oktober fluchtartig verlassen müssen – die örtliche Polizei hatte den Hausherrn im Visier. EXILE ON MAIN ST. wurde zu Beginn des Folgejahres in den Sunset Sound Studios in Los Angeles fertiggestellt und erschien am 12. Mai 1972.
Die Sessions in Nellcôte jedoch wurden zu einem der langlebigsten und faszinierendsten Mythen in der Ära der klassischen Rockmusik. Sie markieren den Moment, als die Rolling Stones die coolste Gang des Planeten waren. Für ihre Fans sowieso. Doch auch sie selbst begannen das nun zu glauben. Der geradezu monarchische Pomp, mit dem sie sich auf ihrer 1972er-US-Tournee selbst feierten und feiern ließen, hat die bis heute gültigen Maßstäbe für das gesetzt, was man unter einem Rockstar versteht. Dass die Stones diese Phase ihrer Karriere überlebten, als sie gottgleichen Status genossen, dionysische Exzesse zelebrierten und jegliche Bodenhaftung verloren zu haben schienen, erstaunt. Daran sind schließlich genug große Musiker, die mit weniger Ruhm und Reichtum auskommen mussten, zerbrochen. Die Erklärung gab Keith Richards selbst, als er einmal bemerkte: »Sex, Drugs, Rock ’n’ Roll? Haben wir alle drei erfunden!« Um dann grinsend zu ergänzen: »Wenn du das glaubst, glaubst du jeden Scheiß!« Immer schon wussten die Stones, dass der Begriff Showbusiness eben aus zwei Worten besteht – Show und Business.
Fans brauchen Helden, Images, Träume und Emotionen. Plus Rock ’n’ Roll. Der 14-jährige Teenager fand all das an jenem tristen Dezembertag des Jahres 1971 an einem Sehnsuchtsort namens Nellcôte. Von diesem Moment an waren die Rolling Stones meine Lieblingsband. Sie sind es geblieben.
Aufstieg: Confessin’ the Blues
Man schrieb den Herbst des Jahres 1961. Die offizielle Geschichtsschreibung hat sich inzwischen auf den 17. Oktober geeinigt, vielleicht aber war es auch ein paar Tage früher oder später. So genau legen sich die Beteiligten da nicht fest.
Mike Jagger, gerade 18 Jahre alt, und Keith Richards, noch 17, stehen am frühen Morgen auf dem Bahnsteig 2 des Bahnhofs von Dartford. Der eine will nach London, um dort als eifriger Erstsemester an der renommierten London School of Economics in die Geheimnisse des Wirtschaftslebens einzudringen. Der andere befindet sich auf seinem täglichen Weg zur Sidcup Art School, wo er den Unterricht mal wieder zu schwänzen gedenkt, um sich mit gleichgesinnten Mitschülern in der Kunst des Gitarrenspiels fortzubilden.
Mick Jagger(Gesang, Gitarre, Harp, Keyboards), geboren am 26. Juli 1943 in Dartford (Kent), 1,78 m, Rolling Stone seit 1962, zwei Mal verheiratet, acht Kinder von fünf Frauen; lässt in jedem seiner Häuser die viktorianische Haushaltsbibel Mrs. Beeton’s Book of Household Management auslegen.
Die beiden Jünglinge kennen sich zwar bereits seit Kindertagen. Für kurze Zeit sind sie sogar gemeinsam in dieselbe Klasse der Wentworth Primary School gegangen und sich seitdem gelegentlich über den Weg gelaufen, ansonsten aber haben sie nichts miteinander zu tun. Und beide haben nicht die blasseste Ahnung, dass sie an jenem Morgen einen Bruder im Geiste finden und von nun an einen gemeinsamen Kreuzzug für ihre Leidenschaft, den schwarzen amerikanischen Blues, starten werden, der sie ein Leben lang aneinanderschweißen wird.
Keith Richards(Gesang, Gitarre, Bass, Klavier), geboren am 18. Dezember 1943 in Dartford (Kent), 1,74 m, Rolling Stone seit 1962, seit 1983 mit Patti Hansen verheiratet, vier Kinder von zwei Frauen, ist bis auf vier Tage bei der Post im Dezember 1961 nie einer geregelten Arbeit nachgegangen.
Der Zeugungsakt der Rolling Stones, die genau neun Monate später ihren ersten öffentlichen Schrei im Londoner Marquee Club tun werden, lässt sich auf die Millisekunde genau festlegen: Es ist der Moment, als Keith Richards auf jenem Bahnsteig unter dem Arm des entfernten Bekannten Mike Jagger zwei Plattencovers entdeckt. In seiner Autobiographie Life (Heyne 2010) schreibt er dazu: »Wenn ich mit einem Kerl, der ROCKIN’ AT THE HOPS von Chuck Berry auf Chess Records und auch noch THE BEST OF MUDDY WATERS unterm Arm trägt, in einen Waggon steige, dann müssen wir uns einfach verstehen. Ich meine, er besaß den Piratenschatz von Henry Morgan. Er hatte das echte Zeug. Und ich keine Ahnung, wie ich drankomme.«
Heute kaum vorstellbar, damals aber Tatsache: Amerikanischen Blues gab es in England nicht zu kaufen. Überhaupt, Schallplatten bekam man allenfalls in Elektrogeschäften. Das karge Angebot in den ein oder zwei Kisten, die dort zwischen Radios und Staubsaugern gestapelt waren, bestand gewöhnlich aus wenigen gerade populären Hitsingles und einer lückenhaften Sammlung von Alben der beliebtesten Musicals, Operetten, Comedy- und Klassikaufnahmen. Für den Blues, der zu diesem Zeitpunkt auch in seiner amerikanischen Heimat ein trostloses Mauerblümchendasein fristete, erwärmte sich in England nur ein verschwindend kleines Grüppchen ethnologisch interessierter Studenten. Plus ein paar versprengte Halbwüchsige, die, ausgehend von einigen Rock ’n’ Roll-Hits der 1950er-Jahre, den Pfad zurück zu den Ursprüngen dieser Musik verfolgten und so auf die schwarzen Originale stießen. Kaum einer von ihnen, schon gar nicht die Vorstadt-Teenager Jagger und Richards, ahnte, dass es außerhalb des eigenen Bekanntenkreises noch weitere Bluesfans geben könnte. Und das erklärt die Euphorie des jungen Keith Richards, der an jenem Morgen auf dem Bahnsteig in Dartford glaubte, den Schatz des legendären Captain Morgan gefunden zu haben.
Mike und Keith treffen sich nun regelmäßig und versuchen sich im heimischen Wohnzimmer mit dem gemeinsamen Bekannten Dick Taylor an Bluessongs. Mike singt und startet erste Versuche auf der Mundharmonika. Keith und Dick spielen Gitarre. So erarbeiten sich die Drei ein bescheidenes Repertoire mit Bluesnummern von Jimmy Reed, aber auch Rock ’n’ Roll von Chuck Berry, Buddy Holly und Richie Valens.
Mit Bob Beckwirth und Alan Etherington stoßen zwei weitere Bluesenthusiasten dazu, die Wohnzimmer-Combo nennt sich nun »Little Boy Blue & The Blue Boys«. Um öffentliche Auftritte bemühen sie sich allerdings nicht, ebenso machen sie einen großen Bogen um den in den späten 1950er-Jahren populären Skiffle, der ein paar hundert Kilometer weiter nördlich in Liverpool beispielsweise die Beatles zusammengebracht hatte. Zweifellos haben die Blue Boys mehr von einer geheimen Bruderschaft als von einer konventionellen Coverband.
Im März 1962 entdecken Mike, Keith und Dick, dass draußen in Ealing, einem westlichen Stadtteil von London, ein Bluesclub seine Pforten öffnet. Für die drei Bluesjünger ist dieses zarte Pflänzchen in der musikalischen Wüstenlandschaft jener Tage eine Sensation: Tatsächlich soll der Ealing Club, ein enges, feuchtes Kellerloch unter einer Bäckerei, nun zur Keimzelle einer neuen musikalischen Zeitrechnung werden. Am 17. März eröffnet er mit einem Konzert der von dem Halbgriechen Alexis Korner geleiteten Hausband Blues Incorporated. Vier Tage später erscheint im Fachmagazin Jazz News ein kleiner Artikel über den Ealing Club, der Mike und Keith nicht entgeht. So ganz allein ist ihre Blues-Bruderschaft also doch nicht.
Am 7. April ist es soweit, die Blues Brothers aus Dartford statten Ealing ihren ersten Besuch ab – und begegnen dort einem Jungen, der in ihrem Leben von nun an eine entscheidende Rolle spielen wird: Brian Jones.
Brian Jones(Gitarre, Gesang, Harp, Keyboards, Marimba, Sitar, Saxophon), geboren am 28. Februar 1942 in Cheltenham (Gloucestershire), gestorben am 3. Juli 1969 in Hartfield (Sussex), 1,68 m, Rolling Stone von 1962–1969, fünf Kinder von fünf Frauen; hatte ein Faible für Busse, restaurierte eine Straßenbahn und jobbte mal als Schaffner.
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