Achtsames Gewahrsein verändert das Gehirn eines skeptischen Fernsehjournalisten
Dr. Graham Phillips ist ein australischer Astrophysiker und Fernsehjournalist. Wohlfühltechniken wie der Meditation begegnete er mit großer Skepsis; deshalb beschloss er, sie auf den Prüfstand zu stellen (Phillips, 2016). Er selbst sagte: »Ich habe mir eigentlich nie wirklich überlegt, ob Meditation für mich gut sein könnte. Aber je mehr ich über entsprechende Forschungsarbeiten höre, desto mehr interessiert es mich, herauszufinden, ob sie etwas bewirken kann.
Also werde ich es zwei Monate lang ausprobieren … Damit ich Meditation ernst nehmen kann, brauche ich handfeste Beweise dafür, dass mein Gehirn sich dadurch positiv verändert.«
Bevor er mit dem Meditieren anfing, unterzog er sich einer Bewertung durch ein Team von Forschern der Monash University unter der Leitung von Dr. Neil Bailey, Professor für Biopsychologie, und dem klinischen Psychologen Dr. Richard Chambers. Er durchlief eine Reihe von Tests zur Auswertung seines Gedächtnisses, seiner Reaktionszeit und seiner Fokussierungsfähigkeit. Außerdem wurde anhand von Kernspintomogrammen die Größe aller Gehirnareale gemessen, insbesondere der Bereiche, die für Gedächtnis und Lernen, die motorische Steuerung und die emotionale Regulierung zuständig sind.
Nach nur zweiwöchiger Praxis der Achtsamkeitsmeditation war Phillips weniger gestresst und konnte die Herausforderungen seines Lebens und seines Berufes besser bewältigen. Wie er berichtete, »nehme ich den Stress wahr, aber lasse mich nicht reinziehen«. Acht Wochen später führten Bailey und Chambers an der Monash University noch einmal die gleichen Tests durch. Das Ergebnis: Phillips konnte Verhaltensaufgaben besser erledigen, obwohl die Gehirnaktivität vermindert war. Wie die Forscher feststellten, wies sein Gehirn eine höhere Energieeffizienz auf. Insgesamt war die Nervenaktivität zurückgegangen; das Gehirn erledigte seine Arbeit besser mit weniger Energie. Auch sein Gedächtnis hatte sich verbessert. Seine Reaktionszeit auf unerwartete Ereignisse hatte sich um fast eine halbe Sekunde verbessert. Phillips stellte sich vor, welche Vorteile das hätte, beispielsweise eine schnellere Reaktion, wenn ihm ein Fußgänger auf einer vielbefahrenen Straße vors Auto liefe.
Die Wissenschaftler vermaßen unter anderem den Hippocampus, insbesondere den Gyrus dentatus, den Teil des Hippocampus, der für die Regulierung von Emotionen in anderen Teilen des Gehirns zuständig ist. Er kontrolliert das sogenannte Ruhezustandsnetzwerk, eine Gruppe von Gehirnregionen, die beim Nichtstun aktiv werden und beim Lösen von Aufgaben deaktiviert werden. Die Masse der Nervenzellen im Gyrus dentatus hatte um 22,8 Prozent zugenommen.
Das ist eine sehr starke Veränderung. Eine solche Neukonfiguration des Gehirns sieht man manchmal bei jungen Menschen, deren Gehirn noch wächst, aber nur selten bei Erwachsenen. Die Veränderungen von Phillips’ Gehirn wiesen auf eine drastisch verbesserte Fähigkeit der emotionalen Regulierung hin. Wie psychologische Tests zeigten, waren auch Phillips’ kognitive Fähigkeiten um mehrere Größenordnungen gestiegen.
Viele Forschungsarbeiten weisen darauf hin, dass Meditation die Gehirnstruktur verändert. Das angesehene Fachblatt »Nature Reviews Neuroscience« veröffentlichte einen Bericht über entsprechende Studien zur sogenannten Achtsamkeitsmeditation; in 21 Studien wurde bei den Probanden wie bei Graham Phillips im Kernspintomografen die Masse der einzelnen Gehirnregionen vor und nach dem Meditieren gemessen.
Gehirnareale, in denen durch Meditation das Neuronenwachstum angeregt wird
Diese zahlreichen Untersuchungen ergaben umfangreiche Hinweise auf neurales Wachstum in »mehreren Gehirnregionen …, was nahelegt, dass sich Meditation auf große Gehirnnetzwerke auswirkt«. Wie die Untersuchung ergab, nahm die Masse von »Gehirnregionen zu, die mit Aufmerksamkeitssteuerung (anteriorer cingulärer Cortex und Striatum), der emotionalen Regulierung (mehrere präfrontale Regionen, limbische Regionen und Striatum) und dem Selbstgewahrsein (Inselrinde, medialer präfrontaler Cortex und posteriorer cingulärer Cortex sowie Precuneus) zu tun haben« (Tang, Hölzel & Posner, 2015). •••
Der Nutzen der emotionalen Regulierung
Wie das Gehirn von Graham Phillips vernetzt sich auch unser Gehirn ständig neu. In den Regionen, die trainiert werden, erhöht sich die neuronale Kapazität. Man lässt sich auf eine andere Erfahrung ein, beispielsweise Meditation, und schon beginnt das Gehirn anders zu arbeiten. Verändert man seinen Geist bzw. sein Denken, fließen Informationen im Gehirn entlang neuer Nervenbahnen. Die Neuronen des Gehirns rekonfigurieren sich entsprechend, feuern und vernetzen sich so, dass es zu dem neuen Muster passt. Der Geist lenkt, das Gehirn reagiert darauf.
Bei Graham Phillips’ Geschichte geht es im Wesentlichen um fünf Punkte:
• Eine 22,8-prozentige Zunahme der Masse der Gehirnregion, die für die emotionale Regulierung zuständig ist
• Verbesserte Reaktionszeiten des Gehirns, besseres Gedächtnis, bessere kognitive Fähigkeiten, verbesserte Verhaltensfähigkeiten
• Ein entspannteres Gehirn mit höherer Energieeffizienz
• Veränderungen im Gehirn in gerade einmal acht Wochen
• Ohne Medikamente, ohne chirurgische Eingriffe, ohne Nahrungsergänzungsmittel oder größere Lebensveränderungen – nur durch Achtsamkeit
Stellen Sie sich vor, Ihnen stünden 22,8 Prozent mehr Nervenzellen im Gehirn für die emotionale Regulierung zur Verfügung.
Emotionale Regulierung mag ein neurowissenschaftlicher Begriff sein, doch diese beiden Wörter haben großen Einfluss im Alltag. Mit einer besseren emotionalen Regulierung lassen Sie sich von so häufig auftretenden Herausforderungen wie den folgenden nicht mehr so leicht aus der Ruhe bringen:
• Sich über Kollegen bei der Arbeit aufregen
• Sich ärgern über das, was der/die Partner/in sagt oder tut
• Sich von plötzlichen Geräuschen oder Anblicken erschrecken lassen
• Problematisches Verhalten der Kinder
• Was Politiker sagen oder tun
• Im Stau feststecken
• Geschichten in den Nachrichten
• Aussehen und Funktionieren des Körpers
• Beim Spielen gewinnen oder verlieren
• Konflikte mit anderen
• Religiöse Konflikte oder Meinungen anderer Leute
• Die Börse, Investitionen, die Wirtschaft
• Die Ruhe bewahren, wenn alle anderen im Stress sind
• Keine Zeit haben oder sich überfordert fühlen
• Wie viel Geld man hat oder zu haben erwartet
• Wie andere Leute Auto fahren
• Alter und körperliche Veränderungen
• Große Menschenmengen, Einkaufen, große körperliche Nähe zu anderen Menschen
• Abweichende Meinungen anderer Leute
• Erwartungen dahingehend, wie das eigene Leben eigentlich sein sollte
• Was die Eltern meinen und sagen
• Schlange stehen oder auf etwas Gewünschtes warten müssen
• Das beneidenswerte Leben von Filmstars und anderen Berühmtheiten
• Menschen, die zu viel Zeit und Aufmerksamkeit anderer Leute beanspruchen
• Was man besitzt oder nicht besitzt
• Nervige Verwandte auf Familientreffen
• Alltägliche Pannen und Missgeschicke
• Beförderungen oder Belohnungen bekommen oder nicht bekommen – oder etwas anderes, was man sich gewünscht hat
• … und alles andere, was einen immer wieder nervt
Stellen Sie sich vor, Sie haben ein Gehirn, das viel besser in der Lage ist, diese Herausforderungen zu bewältigen, sodass Ihr Glück davon nicht getrübt wird. Meditation verändert nicht nur die innere Verfassung – so wie man sich gerade fühlt. Sie verändert die Charakterzüge – die dauerhaften Aspekte der Persönlichkeit, die dem Gehirn eingeprägt sind und über unsere Lebenseinstellung bestimmen. Meditieren fördert zum Beispiel positive Eigenschaften wie eine höhere Belastbarkeit angesichts von Schwierigkeiten, mehr Sympathie und Mitgefühl mit anderen Menschen sowie mit sich selbst (Goleman & Davidson, 2017). Meditation stärkt auch die Selbstkontrolle, sodass wir Regenten über unsere Emotionen sind anstatt ihre Sklaven.
Читать дальше