»So, dann wollen wir mal loslegen. Wie Sie sehen, ist der Patient schon eingeschlafen.« Lachen ertönte.
Der leitende Chirurg der Charité rückte seine Brille zurecht und setzte das Skalpell an.
Ferdinand Sauerbruch galt als der bedeutendste und einflussreichste Mediziner seiner Zeit, und Hannahs Vater war selbst in den Genuss gekommen, von Sauerbruch persönlich in München zu lernen. Georg Sedlmayr war genau zwanzig Jahre jünger als er und hatte von den vielen innovativen Techniken und neuen Erfindungen geschwärmt, die seine Arbeit bis heute prägten. Für Hannah war es eine Ehre, solch einer Größe auf die Finger schauen zu dürfen. Zu seinen Patienten gehörten die höchsten Funktionäre der SS, unter anderem behandelte er Himmler und dessen Familie. Er hatte schon die wichtigsten Leute auf dem Tisch gehabt und operiert. Angeblich hatte Sauerbruch Adolf Hitler nach dem missglückten Putschversuch in München im Hause der Familie Hanfstaengl an der Schulter behandelt. Ob das der Wahrheit entsprach oder nur ein Gerücht war, das wusste keiner so genau.
Berühmt war der Chirurg bereits 1905 geworden, nachdem er ein Verfahren begründet hatte, das die operative Öffnung des Brustkorbs erlaubte. Zu dieser Zeit waren solche Eingriffe höchst gefährlich, da die Öffnung des Brustkorbes dazu führte, dass sich Luft im Brustfell ansammelte und dadurch die Lunge zusammenfiel, was zum Tod des Patienten führte. Sauerbruch entwickelte eine spezielle Kammer, in der ein Unterdruck erzeugt wurde, der das Kollabieren der Lunge verhinderte. Um Lungen etwa von Tuberkulose-Erkrankten möglichst schonend und ohne große Bewegungen operieren zu können, war er auf die Idee gekommen, das Zwerchfell zu lähmen. Ein genialer Einfall! Sauerbruch wagte sich bei solchen Eingriffen sogar an die Entfernung von Rippen, um so leichter an die Lunge zu gelangen. Dafür hatte er während seiner Zeit in München ein spezielles Instrument erfunden, von dem Georg Sedlmayr ihr auch schon erzählt hatte.
Sauerbruch war Hannah vom ersten Augenblick an sympathisch gewesen. Er neigte zwar zu Wutausbrüchen, reagierte cholerisch, wenn jemand nicht schnell genug agierte oder Fehler machte, aber er gab sowohl Männern als auch Frauen diesselben Chancen. Er beäugte sie nicht zweifelnd, ob sie als Frau den schweren Aufgaben hier gewachsen war. Er hinterfragte sie nicht. Er forderte sie, genau wie alle anderen. Alles, was für ihn zählte, waren Leidenschaft, Technik und höchste Qualität. Sie hatte gehört, dass einer seiner besten Freunde ein jüdischer Arzt gewesen war, für dessen Verbleib an der Charité er sich persönlich eingesetzt hatte, was ihr natürlich imponierte. Leider hatten auch Menschen wie Sauerbruch nicht immer Erfolg, schon lange hatten jüdische Ärzte Berufsverbot, und die Charité war judenfrei. Sauerbruch war es scheinbar gelungen, seinem Freund rechtzeitig eine Stelle im Ausland zu besorgen.
Ab dem Ersten Weltkrieg beschäftigte sich Sauerbruch intensiv mit der Geschichte und den Grundlagen von Extremitätenprothesen und entwickelte eine weltberühmte Unterarmprothese. Der sogenannte Sauerbruch-Arm ermöglichte vielen Kriegsgeschädigten eine neue Lebensqualität. Erst gestern war ein Patient, dessen beide Unterarme amputiert worden waren, in die Vorlesung gekommen. Er trug an beiden Armstümpfen die Sauerbruch’sche Prothese, mit der er sogar wieder zu seiner Leidenschaft, dem Malen, fähig war. Als Dank für Sauerbruchs Leistung, die ihm ein neues Leben geschenkt hatte, hatte der junge Künstler dem Arzt ein Portrait von ihm überreicht, das nun im Hörsaal hing.
Hannah hatte sich alle Informationen über die Prothese notiert und die Zeichnungen akribisch genau übernommen. Bei Nachfragen hatte sie mit den richtigen Antworten punkten können, und so hatte sie sich einen der fünf Plätze heute erkämpft.
Der Patient war ein weiterer Soldat, der durch eine Granate seinen Arm verloren hatte. Gestern hatte Hannah noch persönlich mit ihm gesprochen. Über Umwege war er endlich nach Berlin und auf die Liste der Patienten von Sauerbruch gekommen. Der Arzt hatte ihm versprochen, dass er mit seinem neuen Arm wieder in seinen alten Beruf einsteigen könne. Der Soldat wollte die Bäckerei seiner Eltern übernehmen, wenn der Krieg vorbei war.
Das Gesicht des jungen Mannes sah friedlich aus, fast als würde er gerade von schöneren Zeiten träumen. 18 Jahre war er alt. 18 Jahre und vom Krieg gezeichnet.
»Nun machen Sie schon, aber zack zack!«, fuhr Sauerbruch die OP-Schwester an. Mit geübter Hand reichte sie ihm das gewünschte Besteck. An den rauen Ton musste man sich definitiv gewöhnen. An seiner Seite stand ein junger Arzt, dessen Namen Hannah nicht kannte.
»Was überlegen Sie denn so lange? Soll ich Sie gegen einen Studenten austauschen lassen?« Sauerbruch blickte zornig auf. Trotz des Mundschutzes erkannte man, dass sich sein Gesicht rot verfärbt hatte. »Sie scheinen mit dem Kopf wieder woanders zu sein! Ich hatte schon einmal gesagt, dass ich im OP vollste Konzentration verlange.« Er scheute sich nicht, den Kollegen in Anwesenheit aller zu rügen. Sein Gegenüber antwortete nicht einmal, sondern fummelte nervös an seinem Skalpell herum.
Der Muskel des Patienten war nun offengelegt. Jetzt würde, wie gestern beschrieben, der Kanal durch die Oberarmmuskulatur gelegt werden. Die Prothese hatte einen Bolzen aus Elfenbein, der durch genau diesen Kanal geführt werden musste. Auf diese Weise wollte der Arzt die noch vorhandenden Bewegungsreflexe für die Handhabung des Unterarms nutzen. Dieser Mechanismus, der Muskelbewegungen auf Daumen und Zeigefinger übertrug, ließ die Ersatzhand zum Leben erwecken, wodurch die Patienten wieder mobil gemacht wurden. Die Prothese lag vorbereitet auf einem OP-Tisch. Jedes Fingerglied war einzeln beweglich, ebenso das Handgelenk. Eine Meisterleistung, die es dem Mann bestimmt wieder ermöglichen würde, in die Backstube zurückzukehren.
»So! Mir reicht es jetzt! Gönnen Sie sich eine Pause und sortieren Sie bitte Ihre Gedanken! Ich komme hier alleine zurecht«, fuhr Sauerbruch seinen Assistenten erneut an. Dessen Augen funkelten bedrohlich, dennoch legte er sein Operationsbesteck ohne Widerspruch nieder und verschwand. Sauerbruchs Blick fiel auf Hannah. »Dann wollen wir mal einer neuen Ärztin eine Möglichkeit geben, die Prothese einzuführen. Fräulein Sedlmayr? Wären Sie so freundlich, mir zu assistieren? Sie haben fundiertes Fachwissen gezeigt und mich in der Vorlesung absolut überzeugt.« Seine Stimme war wieder freundlich, beinahe einladend. »Kommen Sie nur, ich beiße nicht. Ich traue Ihnen diese Arbeit zu, das sollten Sie selbst auch tun.« Seine Augen beobachteten sie unter den Brillengläsern hindurch und Hannah spürte die neidvollen Blicke der anderen, als sie sich neben Sauerbruch stellte.
»Fräulein Sedlmayr, gestern haben Sie mich in der Theorie überzeugen können. Jetzt sehen wir mal, ob Sie auch hier das Zeug zu einer richtig guten Ärztin haben.« In seinen Augen lag Wärme und eine Zuversicht, die den Mut in ihr wachsen ließ. »Hier sehen Sie die Tunnelierung des Bizeps durch den Dilatator. Oben den zurückgeschlagenen Stiellappen«, erklärte er weiter und fuhr in der Luft über die Stelle. »Ziehen Sie nun einen Mullstreifen durch den Muskeltunnel.« Er reichte ihr das Operationsbesteck und die Mullbinde. Mit ruhigen Fingern zog Hannah die Mullbinde wie er ihr gesagt hatte durch den Tunnel.
»Genau so, Fräulein Sedlmayr. Hervorragend.«
Stolz blickte sie auf ihr Werk.
»Passen Sie auf, ich ziehe den Hautkanal durch den Tunnel, an diesem freien Ende wird er in die Haut eingenäht. Schwester!«
Hannah bemerkte, dass er und die OP-Schwester perfekt eingespielt waren, da sie ihm wortlos seine Werkzeuge reichte.
»So, die ersten Stiche mache ich, dann übernehmen Sie bitteschön.« Er ließ die Nadel geschickt durch die Haut gleiten, dann trat Sauerbruch zur Seite und übergab an Hannah. »Etwas enger die Stiche ansetzen. Jawoll, gut so. Und schon haben wir eine nahezu perfekte Naht.« Mit jedem Stich wurde sie sicherer und sicherer.
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