»Du solltest dich vor diesem Fräulein Liebreiz in Acht nehmen, Hannah. Sie ist nicht der richtige Umgang für dich.« Er war ihr zur Tür gefolgt und griff nach ihrem Arm.
»Haben Sie jetzt auch ihren Stammbaum durchleuchtet? Hat sie etwa auch jüdisches Blut?«
»Das ist es nicht. Ich habe bei ihr kein gutes Gefühl und mache mir Sorgen um dich.« Sie entzog sich seinem Griff. »Du hast die Möglichkeit, dich endlich für die richtige Seite zu entscheiden, Hannah. Keine Juden mehr, keine …« Er suchte nach dem richtigen Wort. »… keine solchen Frauenzimmer.«
Hannah biss sich auf die Unterlippe. »Wissen Sie, Herr Ortsgruppenleiter Winter, oder wie auch immer Sie jetzt heißen, ich habe ein gutes Bauchgefühl bei den Leuten, mit denen ich mich umgebe. Mein Vater hat mir beigebracht, dass ich nur auf mich selbst hören soll. Ich entscheide, mit wem ich meine Zeit verbringe und mit wem nicht. Und Sie«, sie zeigte mit dem Finger auf seine Brust, »sind es, von dem ich mich fernhalten sollte.«
Mit diesen Worten machte sie auf dem Absatz kehrt und eilte zur Tür hinaus. Winter blickte ihr ungläubig nach. Er gab es nicht gerne zu, doch er beneidete Jacob Sternlicht zum ersten Mal in seinem Leben. Er hatte es geschafft, die wahre Liebe zu finden, eine Liebe, die auch noch Monate nach der Trennung nach ihm suchte, während er selbst hier allein war, unfähig zu lieben oder geliebt zu werden. Wie verdammt ungerecht diese Zeiten doch waren.
Juni 1941
Rosenheim
Abendlicher Sonnenschein strömte durch die blauen Gardinen, und der kleine Junge vor ihm auf dem Behandlungstisch kniff fest die Augen zusammen, da ihn die Sonnenstrahlen blendeten. Er kämpfte mit den Tränen, die Mutter hielt seine Hand, küsste sie immer wieder, während sie Gebete vor sich hinmurmelte. Der andere Arm des Jungen stand in einem schrecklichen Winkel ab, Elle und Speiche waren gleichermaßen gebrochen. Die Knochenspitze hatte sich durch die Haut gebohrt und ragte wie die Klinge eines Klappmessers hervor. Immer wieder schielte der Kleine ungläubig auf seinen Arm, als müsse er sich vergewissern, dass die Verletzung real war.
Die Mutter war kurz vor Praxisschluss hereingestürmt, den traumatisierten Jungen in den Armen. Sofort hatte Dr. Sedlmayr alle Routinepatienten nach Hause geschickt. Dies hier würde mehr Zeit in Anspruch nehmen.
Hermann stand mit seinem Vater vor einem der Schränke. Seit Semesterende war er hier in Rosenheim, um ihm zur Hand zu gehen. Außerdem musste er die Zeit nutzen, um von ihm zu lernen. Dr. Sedlmayr war ein empathischer Arzt, der stets im Sinne des Patienten handelte. Viele kamen selbst von weit außerhalb, um seinen Rat zu suchen. Nicht nur als Mediziner, sondern auch als Persönlichkeit war er ein Vorbild für Hermann.
»Wir müssen operieren«, sagte Hermanns Vater und nickte in die Richtung des Jungen. »Heute noch.« Natürlich. Es führte kein Weg daran vorbei. Georg Sedlmayr beugte sich zu seinem Sohn.
»Wenn wir den Jungen ins Krankenhaus überweisen, wird er wahrscheinlich mit einem Pflaster zurück nach Hause geschickt. Ich kenne den Chefarzt dort sehr gut. Er ist in der Partei und weigert sich, Juden zu behandeln. Jeder andere Arzt, der auf seine Karriere schaut, folgt seinen Anweisungen, sonst ist man schneller rausgeflogen als man ›Heil Hitler‹ rufen kann.«
»Haben wir denn alles da, was wir dafür brauchen?«, wisperte Hermann.
»Selbstverständlich! Ich habe in der Klinik in München genug operiert. Unter dem berühmten Professor Sauerbruch habe ich so einige Menschen wieder zusammengeflickt. Hannah hat jetzt das große Glück, von ihm in der Charité zu lernen.«
»Ich assistiere natürlich.« Auch Hermann hatte bereits genug Praxiserfahrung gesammelt. Im Nebenzimmer der Arztpraxis zu operieren war zwar nicht optimal, aber besser als gar keine Behandlung zu erfahren.
Die Augen des Jungen waren glasig, als er den Kopf hob und die beiden Männer ansah. Seine Mutter hatte anfangs an der Geschichte festgehalten, dass ihr Sohn beim Klettern von einem Baum gestürzt war. Erst nach mehrmaliger Nachfrage hatte sie langsam ein paar Brocken ausgespuckt, die man zu einem Ganzen verknüpfen konnte.
Die Frau wohnte mit ihrem Sohn seit einiger Zeit auf dem Bauernhof ihrer Schwester. Der Mann, ein Jude, war unter einem Vorwand abgeholt und in ein Lager gebracht worden. Ihr Sohn hatte auf dem benachbarten Hof mit den Kindern gespielt, als der Bauer wutschnaubend aus dem Stall gelaufen war. Er hatte die Leiter, auf der der Junge gerade dabei gewesen war, nach oben zu klettern, weggerissen, und so war das Kind mit voller Wucht auf den Boden geknallt. Unter wüsten Beschimpfungen des Bauern hatte der Bub sich mit dem gebrochenen Arm nach Hause geschleppt. Der Onkel hatte sie mit dem Traktor in die Praxis gefahren.
Unwillkürlich musste Hermann einen Augenblick an seine Schwester Hannah denken, die ihr Herz auch an einen Juden verloren hatte. Wäre es ihren zukünftigen Kindern ebenso ergangen?
»Wir müssen Ihren Sohn nach nebenan bringen«, erklärte Dr. Sedlmayr ruhig. »Der Knochen muss wieder zusammengefügt werden, ich vermute, dass auch Splitter in der Wunde stecken.«
Die Mutter atmete tief ein, in ihren Augen schwammen Tränen. Sie küsste den Jungen auf die Wangen und wuschelte ihm liebevoll durchs Haar. Hermann hob ihn vorsichtig hoch und trug ihn in den kleinen Operationssaal hinüber, in dem Georg Sedlmayr normalerweise nur unkomplizierte Operationen und Eingriffe vornahm. Aber was hatten sie jetzt für eine Wahl? Dem Kind musste geholfen werden.
Schluchzen drang vom Nebenzimmer an seine Ohren. Der Junge horchte auf.
»Wie heißt du denn?«, fragte Hermann, um ihn abzulenken.
»Ferdi«, wisperte er mit kalkweißen Lippen. »Eigentlich Ferdinand, aber alle nennen mich nur Ferdi.«
»In Ordnung. Pass auf, Ferdi. Wir müssen deinen Arm behandeln, damit du danach wieder auf Bäume klettern kannst.«
»Auf wirklich hohe Bäume?«
»Natürlich. So hoch du dich traust.«
»Ich trau mich richtig hoch. Traust du dich das auch?«
»Als ich so alt war wie du, bin ich von einem Baum zum anderen gehüpft wie ein Eichhörnchen.«
Ferdis Augen wurden groß. »Wirklich?«
»Klar, mit meinem Bruder Karl. Wir sind in die höchsten Kronen rauf, haben von dort nach unten gespuckt und die Sekunden gezählt wie lange es gedauert hat, bis die Spucke unten war.«
Ferdi gluckste bei dem Gedanken laut auf.
»Siehst du die Maske da?« Hermann zeigte dem ängstlichen Kind die Inhalationsmaske. »Ich werde sie dir vorsichtig auf Mund und Nase legen, und du musst mir versprechen, dass du ganz tief und fest einatmest.«
Der Junge leckte sich nervös die Lippen. »Was passiert dann?«, fragte er.
»Die Maske ist verzaubert. Wenn man fest einatmet, kommt man ins Träumeland. Da kannst du dann für ein paar Stunden tun und lassen, was du willst.«
Ferdis Neugier war geweckt.
»Möchtest du es ausprobieren?«
»In Ordnung. Ich versuche es.«
Hermann nahm die Maske und legte sie vorsichtig auf Ferdis Gesicht. Der Junge lag mit dem Rücken auf dem Tisch und hielt die Maske mit den kleinen Fingern fest. Hermann machte ihm vor, wie er atmen sollte. Das Chloroform strömte in seine Lungen und nach wenigen Atemzügen erschlaffte Ferdinands Körper.
»Ah, ihr seid schon bereit«, drang die Stimme seines Vaters an Hermanns Ohren. »Sehr gut gemacht!« Er kontrollierte den Herzschlag und nickte zufrieden. Dann klopfte er Hermann auf die Schulter und lächelte ihm zu. »Diesen Augenblick habe ich lange mit Spannung erwartet. Wir beide zusammen im OP. Dann lass mal sehen, was du bei den großen Professoren gelernt hast«, sagte er mit einem Augenzwinkern.
Die Operation stellte sich bald als Routineeingriff heraus. Der Knochen war nicht wie erwartet gesplittert, und so gelang es ihnen schnell, die beiden Knochenenden wieder aneinanderzufügen. Hermann beobachtete jede kleine Bewegung, die sein Vater machte, und dieser ließ ihn an all seinen Überlegungen teilhaben. Am Ende überließ Dr. Sedlmayr seinem Sohn Nadel und Faden und ließ ihn unter seiner Anleitung den Gips anlegen. Zufrieden nickte er, als Hermann mit seiner Arbeit fertig war. Der Junge schlummerte friedlich, als der Doktor aus dem Operationssaal trat und der Mutter über den Erfolg des Eingriffes berichtete. Dankbar schüttelte sie ihm die Hände.
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