Es dauerte noch nicht mal einen Tag, bis ich ihm auch vertraute. Schon am nächsten Morgen schlich ich mich in Cass‘ Zimmer und erzählte ihm von mir. Ich konnte mich noch nie so schnell einem Menschen anvertrauen wie ihm. Er war der Grund, warum ich jetzt hier in Norddeich lebte und diese Entscheidung, hier zu wohnen, die richtige war.
Cass umarmte mich, ich gab ihm einen Kuss auf die Wange und sagte: „Hallo kleiner Cassi, wie war die Schule?“
„Gut, wir schreiben in zwei Wochen Mathe, du musst mir bei dem Thema helfen“, antwortete er und ich nickte ihm zu. „Übrigens, nenn mich nicht immer so!“
Diesen Kommentar quittierte ich mit einem Lächeln. Dann stürmte er in die Küche und fragte unsere Großmutter, was es zu essen gebe. Dieser kleine Rabauke wollte, im Gegensatz zu mir, eine Woche nach dem Tod unserer Mutter wieder direkt in die Schule gehen.
Er wollte, dass ich auch in die Schule gehe, aber ich war noch nicht bereit dazu. Das war ich zwar jetzt immer noch nicht ganz, aber ich würde es morgen durchziehen. Ehe ich noch einen weiteren Gedanken an morgen verschwendete, ging ich auch in die Küche und aß mit meiner neuen kleinen Familie zusammen zu Mittag. Cass erzählte uns wieder, wie jeden Mittag, etwas über die Schule, schwärmte von einer Schulfreundin und regte sich über seine Lehrer auf.
Den restlichen Tag lag ich in meinem Bett und las in meinem Buch. Am Abend spielten Cass und ich Karten und ich sagte ihm, dass ich Angst vor morgen hätte. Daraufhin sagte er: „Hey, Ave, du schaffst das. Wenn nicht du, wer dann? Du bist die beste Schwester der ganzen Welt und bestimmt auch die beste und coolste Schülerin. Das schaffst du. Ich hab dich lieb!“ Danach war ich so gerührt, dass ich ihn in eine lange Umarmung schloss. Ich gab ihm einen Kuss und wir wünschten uns Gute Nacht. Er war einfach der Beste und ich bin so dankbar, dass ich ihn als kleinen Bruder habe. Ich wüsste ganz ehrlich nicht, was ich ohne ihn tun sollte.
Da ich am nächsten Morgen schon um sechs Uhr aufstehen musste, sagte ich meiner Großmutter noch schnell Gute Nacht und ging ins Bett.
Als ich um sechs Uhr von einem schrillen Piepen neben meinem Bett geweckt wurde, wollte ich es einfach nur abstellen und mich noch weitere fünf Stunden in mein Bett legen, so wie die letzten drei Wochen.
Aber ich hatte heute meinen ersten Schultag in der neuen Schule und wusste, dass ich keine andere Wahl hatte. Ich musste hingehen, ob ich wollte oder nicht. Also stand ich widerwillig auf und zog mich an. Ich entschied mich heute für ein schlichtes weißes Champion T-Shirt, eine schwarze Hose und eine schwarze Lederjacke. Meine Haare trug ich offen und als Accessoire band ich eine Kette mit silbernen Engelsflügeln um, die mir meine Mutter zu meinem 14. Geburtstag geschenkt hatte. Damals hatte sie gesagt, diese Kette würde mich immer beschützen und mir immer Glück bringen. Heute musste dies einfach stimmen, denn wenn ich gleich am ersten Tag negativ auffallen würde, wäre ich der Loser der Schule und darauf hatte ich wirklich keine Lust.
Ich ging in die Küche und begrüßte meine Großmutter: „Morgen, wie lange bist du denn schon wach?“ Meine Großmutter antwortete mit einem Gähnen: „Ich stehe jeden Morgen um halb sechs auf, was du auch schon wissen würdest, wenn du nicht immer bis elf geschlafen hättest.“ Wie konnte sie immer nur so früh aufstehen? Menschen, die freiwillig so früh aufstanden, hatte ich noch nie verstanden.
„Wo ist Cass? Soll ich ihn wecken?“, fragte ich sie mit einem unterdrückten Gähnen. Diese antwortete mit einem Grinsen im Gesicht: „Nein, er ist schon seit zwanzig Minuten wach.“
„Er möchte nicht gestört werden, hat er gesagt“, setzte sie hinzu und ich musste augenblicklich anfangen zu grinsen. Ich machte das Radio an und aß Müsli.
Gerade als ich fertig gegessen hatte, kam Cass in die Küche. Er hatte heute ein schwarzes T-Shirt von Star Wars an und eine blaue Jeanshose. Er sah mit seinen verwuschelten Haaren einfach zum Anbeißen aus. „Morgen“, sagte Cass fröhlich und umarmte erst unsere Großmutter und danach mich. Er nahm sich schnell einen Müsliriegel aus dem Kühlschrank und sagte zu mir: „Ave, ich muss dir etwas zeigen!“ Er nahm mich an der Hand und zog mich aus der Küche in sein Zimmer. Ich war gespannt, was Cass mir zeigen wollte.
„Mach die Augen zu“, verlangte er von mir und ich gehorchte ihm. „Jetzt mach sie wieder auf“, sagte er voller Vorfreude. Als ich die Augen öffnete, konnte ich nicht anders als zu lächeln. Cass war zwar noch sehr jung, konnte aber schon, genauso wie ich, sehr gut zeichnen. Wieder eine Gemeinsamkeit von uns beiden. Cass hatte mir ein Bild gemalt, auf dem wir beide Hand in Hand am Strand vor dem Sonnenuntergang saßen. Sofort fiel ich Cass in die Arme und quietschte: „Danke Cass, das ist so toll. Ich hab dich so lieb.“
Cass erwiderte meine Umarmung und als ich ihm direkt in die Augen sah, sah ich, dass seine Augen glitzerten. Waren das etwa Tränen? „Cass, was ist los? Warum weinst du denn?“, fragte ich ihn verwundert. Cass wischte sich schnell die Tränen weg, aber sah mir weiterhin ganz tief in die Augen: „Ich habe Angst, dass du, wenn du in die neue Schule gehst, Freunde findest, mit denen du dann viel mehr machst, als mit mir und dass ich dir dann nicht mehr so wichtig bin wie jetzt.“
Jetzt traten mir doch tatsächlich auch Tränen in die Augen, obwohl ich mir fest vorgenommen hatte, egal was passiert, an meinem ersten Schultag nicht zu weinen. „Cass, eins musst du wissen: Du bist der wichtigste Mensch für mich und ich werde immer für dich da sein, egal was passiert. Ich werde ganz sicher nicht, wenn ich neue Freunde finden sollte, mehr mit ihnen machen, denn du bist mein Ein und Alles und du wirst immer meine Nummer eins sein. Egal, was passiert. Ich liebe dich so sehr und du bist der beste kleine Bruder auf Erden! Das musst du mir glauben, okay?“ Cass umarmte mich noch ein zweites Mal und ich merkte, wie er sich langsam beruhigte. „Hey, nicht mehr weinen, okay?“
Ich wischte ihm die Tränen aus den Augen und er nickte tapfer. Er nahm mich an der Hand und kurz bevor wir aus seinem Zimmer gingen, sagte er zu mir: „Ave, du bist auch die beste Schwester und ich hab dich auch lieb!“ Damit mir nicht wieder die Tränen kamen, nickte ich nur, drückte seine Hand fester und mit dem Bild in der anderen Hand gingen wir aus seinem Zimmer zurück in die Küche. Ich zeigte meiner Großmutter schnell das Bild und hing es direkt in meinem Zimmer auf, putzte mir noch schnell meine Zähne, zog meine Schuhe an und dann stand ich vor meiner Haustür.
Meine Großmutter wünschte mir viel Glück und sagte, ich würde das rocken.
Dann liefen mein Bruder und ich Hand in Hand zur Bushaltestelle, wo wir noch zehn Minuten warten mussten. Mein Bruder hatte einen besten Freund. Sein Name war Connor und als er Cass und mich sah, kam er zu uns. „Hi Cass und du bist Avery?“, fragte er mich. „Ja, das bin ich. Und du musst wohl Connor sein, Cass´ bester Freund?“, antwortete ich mit einer Gegenfrage. „Ja, das bin ich“, antwortete er mir mit einem verschmitzten Lächeln.
„Connor, willst du dich neben uns setzten?“, fragte mein Bruder ihn und dieser nickte. Als der Bus endlich kam und wir uns hinsetzten, erzählte Connor mir etwas über sich und seine Hobbys. Er redete sehr viel. Ich hörte ihm zu und fand ihn sehr süß. Obwohl es eventuell ein bisschen seltsam aussah, eine Sechszehnjährige alleine neben zwei Achtjährigen im Bus sitzen zu sehen, war es mir egal. Die Fahrt dauerte circa zehn Minuten und als wir ausstiegen, umarmte ich Cass noch ein letztes Mal, gab ihm einen Kuss auf die Stirn und sagte: „Denk dran, nach der Sechsten treffen wir uns wieder hier.“ Er antwortete mir mit einem: „Ja, hab dich lieb Ave!“
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