1 ...6 7 8 10 11 12 ...17 Als das Mädchen den Mann erreicht hatte, umklammerte er krampfhaft den Pfahl. Sie hatte gesehen, wie er dabei zitterte. Also hatte sie die Hand ausgestreckt und ihn an der Schulter berührt, um ihm die Angst zu nehmen. Er war zusammengezuckt und herumgefahren. Aschfahl im Gesicht. Ungläubig hatte er sie angesehen und die dröhnende Stille war dem Dröhnen der Trommeln gewichen, als die Dinge wieder an ihren Platz gerückt waren.
Auf dem Festplatz drehten Molly und John eine letzte einsame Runde, bevor sie sich an den Händen fassten und mit den letzten Sonnenstrahlen hinaus über den Horizont tanzten.
Zweites Kapitel
Lewis Left Hand Schneegestöber
Rosebud Reservation, Winter 1987
Lewis stand im Wohnzimmer des blauen Hauses. Dem Haus seines Vaters. Seinem Haus. Jetzt. Wann immer er im Sommer Zeit gefunden hatte, war er mit Renovierungsarbeiten beschäftigt gewesen, um das alte Haus wieder bewohnbar zu machen. Vor allem aber auch winterfest.
Bernard Little Horse, der inzwischen so etwas wie ein guter Onkel für Lewis war, hatte seinem Schützling von den harten Präriewintern erzählt und stand ihm auch sonst mit Rat und Tat zur Seite. Auch Alma Yellow Hat geizte nicht mit ihrer Zuneigung und wurde nicht müde in ihren Bemühungen, Lewis die Eingewöhnung zu erleichtern. Allerdings hielt sich der Erfolg in Grenzen.
Von der Familie seines Vaters existierte tatsächlich niemand mehr. Die geheimnisvolle Tante war und blieb spurlos verschwunden. Der Name Left Hand bürgte offenbar für Schwierigkeiten. Mit dieser Tatsache musste Lewis sich abfinden, als er die schmerzliche Erfahrung machte, dass die Familie seiner Mutter nichts mit ihm zu tun haben wollte. Das waren eine Menge Leute, von denen keiner einen besonderen Wert auf Lewis Anwesenheit zu legen schien. Anfangs hatte Lewis den Grund für dieses feindselige Verhalten bei sich selbst gesucht, weil er ein Fremder war, weil er sich wie ein Weißer benahm und weil er ein Besitzer im Land der Besitzlosen war. Aber das allein war es nicht. Diese Art von Abneigung ging tiefer.
Lewis hatte mit Bernard darüber gesprochen, doch der hatte nur gelacht und gemeint, dass die Leute einfach ein bisschen Zeit brauchen, um sich an ihn und seine seltsamen Großstadtmanieren zu gewöhnen. Danach hatte Little Horse rasch das Thema gewechselt. Offensichtlich wollte er nicht mit Lewis über dessen verworrene Familiengeschichte reden. Keiner wollte das. Manchmal dachte Lewis, dass er ebenso gut in New York hätte bleiben können. Dort kannte ihn wenigstens niemand. Hier dagegen schon. Mieden sie ihn wegen seines Vaters? Wenn ja, warum? Von seinem anderen Vater, der bereits eine Woche nach ihrem Wiedersehen abgereist war, hatte Lewis auch nicht viel in Erfahrung bringen können. Aber das lag wohl eher daran, vermutete Lewis, dass Andrew wirklich nicht mehr wusste als das, was er ihm bereitwillig erzählt hatte. Bernard Little Horse dagegen wusste sicher alles und erzählte nichts. Offenbar war er der Meinung, dass es besser für alle Beteiligten wäre, wenn er sich nicht einmischte. Auch gut. Immerhin war er einer der gastfreundlichsten Menschen, denen Lewis je begegnet war. Andrew und er hatten die ganze Zeit über bei ihm und seiner vierköpfigen Familie gewohnt. Und das, obwohl Little Horse bis dahin keinen von ihnen gekannt hatte.
Andrew Maclean war mittlerweile zurück in Schottland, seiner alten Heimat. Es ging ihm gut. Das stand in seinem letzten Brief, der vor zwei Wochen angekommen war. Seitdem verfügte Lewis über ein hübsches Sümmchen auf seinem Bankkonto. Sein Vater hatte ihm die Hälfte des Geldes, das der Verkauf ihrer Wohnung in New York erbracht hatte, überlassen. Er wollte, dass Lewis frei war. Frei zu entscheiden, was er mit seinem Leben anfangen wollte. Andrew hatte es gut gemeint. Wenigstens war Lewis dadurch die Sorge um einen Job los. Vorerst zumindest.
Lewis ging zu einem der Fenster und sah hinaus. Der Winter war über Nacht gekommen. Heftige Schneestürme und eisiger Frost hatten seinen Einzug begleitet. Jetzt hielt er das Land und die Menschen fest im Griff und Lewis begann sich zu fragen, wie er diesen Teil des Jahres in der trostlosen Einsamkeit seines Hauses überstehen sollte. War er frei?
Er sah hinüber zu den Pappeln. Kahl und starr umstanden sie das Haus. Kein Flüstern der Blätter mehr, kein Rauschen. Nur noch die Äste gaben wehmütig knarzende Töne von sich, wenn die Kälte der Nacht der blassen Wärme des Tages wich oder der Sturm über die Ebene tobte. Kleine Vögel suchten Schutz im dichteren Geäst. Lewis riss den Blick von ihnen los und ging zu dem gusseisernen Ofen in der Ecke.
Der Ofen heizte gut. Alle vier Räume des Hauses, wenn es sein musste. Der Ofen und das bereitliegende Holz waren, neben einem ausziehbaren Schlafsofa und einer Kiste mit Büchern, eine spärliche Erweiterung der restlichen Kücheneinrichtung. Im Bad gab es eine neue Dusche, ein Waschbecken und ein WC. Lewis hatte die Leitungen verlegen lassen. Wasser vom Brunnen im Hof zu holen, das hatte er sich noch vorstellen können, aber im Winter auf ein zugiges Aborthäuschen angewiesen zu sein, das überstieg dann doch seine Vorstellungskraft. Mochten die Leute denken, was sie wollten.
Die Küche wirkte gleichsam luxuriös im Vergleich zu den übrigen Räumen. Ein nagelneuer Elektroherd prangte neben dem silberglänzenden Spülbecken und den weißen Einbauschränken. Gegenüber, unter dem zweiten Küchenfenster, standen ein großzügiger Tisch und sechs Stühle. Die nackte Glühbirne, die von der Decke baumelte, erregte noch Lewis Missfallen, aber ansonsten war er mit dem Ergebnis seiner Arbeit durchaus zufrieden. Das Schlafzimmer schließlich beherbergte ein breites Bett und ein paar Kleiderhaken. Auf dem Boden standen noch einige seiner Umzugskisten, von denen eine als Nachttisch diente, auf dem etwas verloren eine Lampe neben ein paar Büchern stand. Der vierte Raum war leer. Lewis hoffte, dass Alma die Küche gefiel. Sie hatte seine sonstigen Errungenschaften nur mit einem kurzen Nicken gewürdigt, als sie vor drei Wochen das letzte Mal vorbeigeschaut hatte, um ihn zum wiederholten Male darauf aufmerksam zu machen, dass die Küche der wichtigste Ort in einem Haus wäre. Der Ort, wo alle zusammenkommen. Alma hatte ihm auch manchmal ihre beiden halbwüchsigen Söhne vorbeigeschickt, damit sie ihm am Anfang beim Streichen und beim Verlegen der Böden halfen. Nathan und Jason hatten bereitwillig mitangefasst und Lewis war froh über ihre Hilfe gewesen, aber eine persönliche Beziehung war nicht entstanden. Lewis, der die beiden für ihre Mühe großzügig bezahlt hatte, fragte sich, ob es wohl nicht genug war. Inzwischen glaubte er aber zu wissen, dass die Bezahlung an sich ein Fehler gewesen war. Warum, wusste er allerdings nicht.
Er bewegte sich nach wie vor in einem luftleeren Raum und hatte keine Ahnung, ob sich das je ändern würde. Wenn er jedoch wirklich bleiben wollte, konnte er nicht für den Rest seines Lebens an Almas Rockzipfel hängen oder die Gastfreundschaft der Little Horses über Gebühr in Anspruch nehmen. Er musste lernen, auf eigenen Füßen zu stehen.
Lewis legte Holz nach, betrachtete seine schwindenden Vorräte und wusste, dass er bald für Nachschub würde sorgen müssen. Natürlich könnte er auch rausgehen und ein paar Pappeln fällen, aber der Gedanke widerstrebte ihm. Außerdem gingen auch einige seiner Lebensmittel zur Neige. Er musste also ohnehin nach Rosebud oder Mission. Ihm graute bei dem Gedanken an diese Fahrt. Lewis verließ nur ungern seine selbst gewählte Einsamkeit, obwohl ihm auch davor zu grauen begann und er manchmal schweißgebadet aus irgendwelchen Albträumen hochschreckte, nur um den Rest solcher Nächte dösend auf einem Küchenstuhl zu verbringen, wo ihm die Schrecken der Vergangenheit nichts anhaben konnten.
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