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Cavillon hatte sich grundlegend verändert in den Wochen, die verstrichen waren, seit Maziroc zusammen mit den Elben zu der Expedition aufgebrochen war. Stärker noch als Ai'Lith war die Ordensburg stets ein Ort des Friedens gewesen, der Wissenschaft, der Magie und der Künste. Sie hatte für ihn immer etwas klösterlich Besinnliches gehabt, doch nun hatte Cavillon sich in ein Heerlager verwandelt. Nichts war mehr von der einstigen Ruhe und Beschaulichkeit dieses Ortes geblieben, wurde Maziroc schmerzhaft bewusst, während er raschen Schrittes den Innenhof überquerte und dabei seinen Blick umherwandern ließ.
Zur Verstärkung der zahlenmäßig eher kleinen Garde waren zahlreiche Krieger aus den evakuierten Städten Larquinas, aber auch aus Aslan und dem im Süden gelegenen Caarn herbeigeeilt. Croman, der noch junge larquinische Kaiser, hatte mehrere hundert Bogenschützen und fünf Bataillone schwerer gepanzerter Kavallerie zu ihrer Unterstützung geschickt. Allein diese fünfhundert Reiter würden wie eine unaufhaltsame Woge über jeden anderen Gegner hinwegbrausen und ihn aufreiben, doch Maziroc bezweifelte, dass sie einem zahlenmäßig so überlegenen Feind wie den Damonen ernsthaft gefährlich werden konnten. Aber dass Croman das Herzstück seiner Armee nach Cavillon gesandt hatte, zeigte deutlich, dass er sich der Gefahr deutlich bewusst war. Wenn Cavillon fiel, würden die Damonen bald darauf auch Basla erreichen, seine Residenz.
Die Ordensburg schien vor Menschen aus allen Nähten zu platzen, doch handelte es sich zum allergrößten Teil um Soldaten. Außer ihnen hielten sich nur noch Magier und Vingala in Cavillon auf, da Charalon auch hier die Evakuierung sämtlicher Zivilisten angeordnet hatte, sogar die der aus Ai'Lith geflohenen Elbenfrauen und -kinder. Selbst seine eigene Frau hatte er fortgeschickt. Schier endlose Flüchtlingsströme zogen auch jetzt immer noch nach Norden, an der Ordensburg vorbei, wo sie sich Schutz erhofft hatten, der ihnen nun nicht gewährt wurde. Es war eine harte Entscheidung, aber die einzig sinnvolle. Sollte auch Cavillon fallen, würden sie nirgendwo sicher sein, wie weit sie auch flohen, doch die Ordensburg war zu klein, um auch nur einen nennenswerten Teil von ihnen aufnehmen zu können, und sie würden während des Kampfes die Verteidigung nur behindern. Schon jetzt herrschte Mangel an Quartieren für die zahlreichen Soldaten.
Abgesehen von der Zahl und der Art der Bewohner hatte Cavillon sich aber auch in anderer Hinsicht verändert. Wälle waren vor den Mauern aufgeschüttet und Gräben ausgehoben worden, in die man Petroleum leiten und anzünden konnte. Allerdings bezweifelte Maziroc, dass die Maßnahmen sonderlich viel nützen würden. Wenn die Damonen ebenso selbstmörderisch wie beim Sturm auf die Hohe Festung angriffen, würden sie sich mit Todesverachtung in die Gräben stürzen, bis sie das Feuer mit ihren Körpern erstickt und die Gräben gefüllt hätten, sodass die Nachfolgenden über sie hinweg und die Wälle hinauf stürmen konnten.
Darüber hinaus aber waren auch erfolgversprechendere Lehren aus dem Verlauf der Schlacht um Ai'Lith gezogen worden. So waren die Mauerspitzen durch nach außen überragende Aufbauten aus Holz aufgestockt worden, um ein Überklettern zu erschweren, und die Wehrgänge waren außerdem überdacht worden, um besser gegen Angriffe aus der Luft geschützt zu sein. Ob diese Veränderungen wirklich etwas nutzen würden, würde sich erst beim Angriff zeigen, der nun nicht mehr lange auf sich warten lassen würde.
Vor knapp zwei Stunden waren die Elbenkrieger unter der Führung Eibon Bel Churios in Cavillon eingetroffen. Auch Pollus hatte sich bei ihnen befunden, da er darauf bestanden hatte, seinen Platz im Transportkorb des Drachen für einen weiteren Verwundeten freizumachen und selbst mit den anderen Männern weitergeritten war. Sie alle waren völlig am Ende ihrer Kräfte angelangt und hatten sich sofort in die für sie vorbereiteten Quartiere zurückgezogen. In den vergangenen Tagen, seit Maziroc sie zuletzt gesehen hatte, mussten sie wie die Teufel geritten sein. Dennoch betrug ihr Vorsprung vor den Damonen nur einen knappen Tag, was bedeutete, dass auch die Ungeheuer die Ordensburg bald erreichen würden.
Trotz seiner Erschöpfung hatte Eibon schon so kurz nach seiner Ankunft nach Charalon und Maziroc geschickt, hatte sich nicht mehr an Erholung gegönnt, als unbedingt nötig war. Das allein zeigte dem Magier, dass der Elbenkönig ihnen etwas äußerst Wichtiges mitzuteilen haben musste.
Als er das Quartier Eibons fast erreicht hatte, verließ gerade eine ältere Vingala den Raum. Ihr Gesicht drückte Trauer aus, und ihre Augenwinkel glänzten sogar feucht.
"Was ist los?", erkundigte sich Maziroc. "Wie geht es Eibon?"
"Nicht gut", presste die Vingala hervor und man sah nun, dass sie wirklich mit den Tränen kämpfen musste. "Ich fürchte, er ... er wird sterben. Diese verfluchten Ungeheuer!"
Sie eilte an ihm vorbei, und Maziroc betrat das Zimmer. Außer dem Elbenkönig selbst hielten sich noch sein Leibarzt und zwei weitere Hexen dort auf. Auch Charalon war bereits eingetroffen. Schon der erste Blick in das abgezehrte, eingefallene Gesicht Eibons zeigte Maziroc, dass die Vingala recht gehabt hatte. Er hatte einen Mann vor sich, der mit dem Tode rang und bereits unheilbar von ihm gezeichnet war. Fast apathisch lag er in seinem Bett, bekam von seinem Arzt gerade einen Trank aus einer Schale eingeflößt. Nach wenigen Schlucken musste er husten. Ein Teil des Trankes floss aus seinen Mundwinkeln zurück, doch hatte er sich mit Blut vermischt. Der Blick des Elbenkönigs war von hohem Fieber getrübt, klärte sich jedoch ein wenig, als er Maziroc erkannte.
"Geht jetzt", befahl er seinem Arzt und den beiden Vingala. Seine Stimme war kaum mehr als ein Wispern, und das Sprechen fiel ihm sichtlich schwer. "Was ich ... zu sagen habe, ist nur ... für die Ohren von Charalon und Maziroc bestimmt."
"Aber Herr", wandte sein Leibarzt ein, ein ebenfalls schon älterer Elb. "Ihr könnt ..."
"Geht", sagte Eibon noch einmal, ein wenig lauter diesmal. "Das ist ... ein Befehl."
"Wie Ihr befehlt, Herr." Mit sichtlichem Widerwillen stellte der Arzt die Schale auf einem Tischchen ab. Nachdem er den Elbenkönig noch einige Sekunden lang betrachtet hatte, wandte er sich mit einem Ruck ab und verließ zusammen mit den Vingala den Raum.
"Kommt näher", bat Eibon und winkte ihnen schwach mit der Hand.
"Du darfst dich nicht anstrengen", sagte Charalon, als er ebenso wie Maziroc bis direkt an das Bett vorgetreten war. "Es wäre besser, wenn du dich erst etwas erholen würdest und wir später miteinander sprechen."
"Es wird ... kein später mehr für mich geben", entgegnete Eibon krächzend. "Machen wir uns ... nichts vor. Ich werde ... sterben. Die Anstrengung war ... zu viel für mich. Ich habe den Zeitpunkt ... schon seit Tagen nur mehr hinausgezögert. Ich bin ... für meine Männer verantwortlich und musste ... sie sicher hierhergeleiten. Nun ist ... meine Aufgabe erfüllt und meine Kraft ... fast aufgebraucht."
"Aber das stimmt nicht", antwortete Charalon und griff impulsiv nach der Hand des Sterbenden. "Das Volk der Elben ... wir alle brauchen dich auch weiterhin. Dein Tod wäre ein furchtbarer Schlag für deine Leute und würde sie noch vor der Schlacht völlig demoralisieren."
"Du kennst uns Elben ... nicht so gut, wie du denkst", behauptete Eibon. "Mein Tod wird ihnen im Gegenteil ... Kraft geben. Jeder von ihnen ... wird darauf brennen, mich zu rächen. Aber mir bleibt ... nur noch wenig Zeit, und ich muss ... euch dringend etwas sagen. Vielleicht könnte es ... die Rettung für Cavillon sein." Er hob schwach eine Hand und deutet auf eine Kommode. "Die Schatulle dort ... gebt sie mir."
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