Es war immer noch irritierend, ihn mental nicht spüren zu können, eigentlich der einzige Hinweis darauf, dass er eben doch nicht einfach nur ein normaler Mensch war. Aber auch das war nicht die Ursache für die Unsicherheit, die sie ihm gegenüber empfand. Aus irgendeinem Grund war es ihr unterbewusst ausgesprochen wichtig, seine Achtung und seinen Respekt zu erlangen. Vielleicht bemühte sie sich gerade deshalb zu demonstrieren, dass er sie nicht so ohne Weiteres einwickeln konnte. Allerdings stellte sie sich dabei offenbar reichlich ungeschickt an und hatte ihn lediglich verärgert.
Mit aller Macht versuchte sie, diese Gedanken für den Moment erst einmal zu verdrängen. Stattdessen konzentrierte sie sich auf die Verletzung, tastete mit ihrem Geist nach dem wunden Fleisch und wirkte mit ihrer magischen Heilkraft darauf ein. Auf diese Art regte sie es zu einem um ein Vielfaches beschleunigten Heilprozess an, als dieser normalerweise ablaufen würde. Die Reizung und Entzündung ging zurück, Schorf bildete sich rasch, der in Windeseile neuem Fleisch wich.
Aber auch Miranyas Möglichkeiten waren Grenzen gesetzt, schließlich konnte sie nicht die Zeit schneller ablaufen lassen, sondern lediglich die Heilung beschleunigen. Aber als sie ihre geistigen Finger mit einem erschöpften Seufzer zurückzog, befand sich die Wunde bereits in einem fortgesetzten Stadium der Heilung. Sie hatte sich geschlossen, und selbst bei einer starken Belastung bestand kaum mehr Gefahr, dass sie noch einmal aufbrechen würde. Zur Sicherheit, und um auch weiterhin eine gute Heilung zu gewährleisten, strich sie eine Salbe auf, bedeckte sie mit einigen Heilkräutern und wickelte anschließend einen Verband um den Arm.
"So, das war es", verkündete sie abschließend. Kenran'Del wollte sich aufrichten, doch sie drückte ihn mit sanfter Gewalt auf das Bett zurück. "Es ist besser, wenn Ihr noch liegen bleibt und Euch etwas ausruht. Ihr seid geschwächt und habt viel Blut verloren."
"Ich habe nichts dagegen, wenn Ihr mir dabei Gesellschaft leistet", erklärte er. "Gerade bei dem Blutverlust dürfte ein Schluck Wein genau richtig sein, stimmt es nicht?"
"Nun, solange Ihr ihn nicht im Übermaß trinkt, dürfte etwas Wein wohl nicht schaden", bestätigte Miranya. "Soll ich Euch einen Becher holen?"
"Nein", antwortete Kenran'Del. Anscheinend zeigte sie vor Verwunderung einen nicht gerade intelligenten Gesichtsausdruck, denn er musste grinsen. "Bringt einen ganzen Krug und zwei Becher", sagte er. "Während wir ihn gemeinsam leeren, werde ich Euch dann Eure Fragen beantworten. Was haltet Ihr davon?"
Miranya brauchte nicht lange zu überlegen.
"Das klingt nach einer Einladung, die man eigentlich nicht ablehnen kann", entschied sie und stand auf. "Ich hole den Wein."
"Gespenstisch", murmelte Pollus. "Als wäre das ganze Land verbrannt."
Maziroc nickte zustimmend. Über eine schier endlose Fläche schien das Land tatsächlich schwarz wie nach einem Feuer geworden zu sein. Stärker aber noch erinnerte ihn der Anblick an einen Zug von Wanderameisen, wie er ihn vor einigen Jahren bei einer seiner umfangreichen Reisen in den schwach besiedelten und deshalb noch weitgehend unerforschten Ostländern gesehen hatte. Obwohl die Ameisen einen völlig toten Landstrich ohne einen einzigen Grashalm oder irgendein lebendes Wesen zurückgelassen hatten, handelte es sich bei dem gigantischen Heer der Damonen, die tief unter ihnen in nordwestlicher Richtung dahinzogen, um noch weitaus schrecklichere und gefährlichere Kreaturen.
Wie schon bei dem Kampf bei dem Gehöft war er auch diesmal geradezu froh, dass es dunkel war und sie außerdem noch so hoch flogen, sodass er sie nur als eine riesige schwarze Fläche sah, statt als einzelne Wesen. Es mussten Millionen von ihnen sein. Die ungeheuerliche Zahl der Bestien überstieg seine schlimmsten Befürchtungen noch bei weitem. Er hatte gewusst, dass es viele von ihnen gab, aber mit so vielen hatte auch er nicht gerechnet.
Allmählich konnte er sich sogar das an sich Unbegreifliche vorstellen, wie Ai'Lith gefallen war. Dem Ansturm einer solchen Übermacht, bei der auf jeden einzelnen Verteidiger mehrere tausend Angreifer kamen, konnte selbst eine noch so stark befestige Burg mit noch so ausgeklügelten Verteidigungsanlangen nicht standhalten. Aber da der Kampf um die Hohe Feste den Damonen trotz ihrer Übermacht mit Sicherheit hohe Verluste abgefordert hatte, musste ihre ursprüngliche Anzahl sogar noch bedeutend höher gewesen sein. Gegen einen Gegner, den man nicht schwächen konnte, weil für jeden Gefallenen eine nahezu unbegrenzte Zahl neuer Krieger bereitstand, hatten selbst die Elben innerhalb ihrer Festung keine Chance gehabt, obwohl auch das nicht die Schnelligkeit erklärte, mit der die Damonen Ai'Lith überrannt hatten.
Aus Furcht, dass man sie erneut angreifen könnte, ließ Marrin den Drachen sehr hoch und sehr schnell fliegen, doch es gab keinen Angriff. Entweder entdeckten die Damonen sie hoch am Nachthimmel nicht, oder bei dem Heer befanden sich keine Flugungeheuer, oder aber sie kümmerten sich aus irgendwelchen anderen Gründen gar nicht weiter um den Drachen. Was auch immer davon zutraf, Maziroc war es nur recht. Er konnte auf eine weitere Auseinandersetzung in der Luft gut verzichten.
Das Damonenheer war so gewaltig, dass es dem Magier wie eine Ewigkeit vorkam, bis es endlich hinter ihnen zurückblieb. Marrin ließ den Drachen tiefer sinken, als keine unmittelbare Gefahr einer Entdeckung und eines Angriffs mehr bestand.
Sie flogen noch weitere knapp zwei Stunden, bis sie schließlich Lichter unter sich entdeckten. Es handelte sich um die zahllosen Lagerfeuer des Nachtlagers eines Heeres. Mit Schrecken wurde Maziroc bewusst, welch geringen Vorsprung die Elben nur vor ihren Verfolgern hatten. Seit sie aus der Hohen Festung geflohen waren, mussten sie permanent gejagt worden sein.
Marrin ließ den Drachen einige hundert Meter von den Feuern entfernt niedergehen, um keine Panik oder irgendwelche Abwehrreaktionen hervorzurufen, wie sie angesichts der gefährlichen Situation und der sicherlich angespannten Nerven der Elbenkrieger durchaus möglich waren.
"Ich werde direkt wieder losfliegen und unseren Königen vom Fall der Hohen Festung berichten", erklärte er, als Maziroc und Pollus aus dem Korb gestiegen waren.
"Ich kann Euren Wunsch, so schnell wie möglich nach Ravenhorst zurückzukehren, gut verstehen", antwortete Maziroc. "Trotzdem solltet Ihr erst noch mit uns ins Lager kommen. Wenn Ai'Lith erobert wurde, dann droht auch Ravenhorst Gefahr. Ihr solltet Euch anhören, was genau in der Hohen Feste geschehen ist, das dürften für Borrus unschätzbar wichtige Informationen sein."
Der Zwerg zögerte einen Moment, dann kletterte auch er von dem Drachen herunter. "Ihr habt recht", sagte er mit einem Gesicht, als hätte er gerade sein eigenes Todesurteil verkündet. "Ich würde mir lieber eine Hand abhacken, als mich freiwillig in ein Heerlager der Elben zu begeben, aber diese Informationen könnten für mein ganzes Volk lebenswichtig sein."
Mit raschen Schritten gingen sie auf das Lager zu, doch kamen sie nur wenige Dutzend Schritte weit. "Stehen bleiben!", ertönte ein barscher Befehl aus der Dunkelheit vor ihnen. "Keinen Schritt weiter oder wir schießen. Wer seid ihr?"
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