»An sie kann ich mich gut erinnern. Sie wohnte damals bei uns in der Nähe, in Westberlin. Mein Großvater war schon tot. Lebt eigentlich noch jemand von ihren Freunden hier?«
»Es wurde etwas von einem Gönner oder Liebhaber gemunkelt, aber keiner von uns hat je erfahren, wer er war. Wir wissen nicht, ob er hier lebte oder nur ab und an zu Besuch kam. Ich glaube, er ist kurz vor Adina gestorben. Sie hatte mit einem Mal keinen Lebensmut mehr. Die Tochter war in Berlin, der älteste Sohn ging gleich nach dem Krieg in einen Kibbuz in Palästina. Der jüngere war ständig für seine Firma im Ausland unterwegs. Die Enkel hat sie auch nicht so oft gehabt wie andere, deren Kinder zu DDR-Zeiten in Karl-Marx-Stadt zu Hause waren. Ich hatte aber nicht den Eindruck, dass sie einsam war.«
Adina überlegte kurz. Als Frau Rosenkranz weiter schwieg, sagte sie: »Vielleicht sind die unerfüllten Lieben die dauerhaftesten.« Dann blickte sie aus dem Fenster bis zur Kaßberg-Auffahrt ihren Gedanken hinterher.
»Kommen Sie, ich zeige Ihnen etwas«, riss Frau Rosenkranz Adina aus ihren Gedanken. Sie stand auf und ging durch den Flur in ein leer wirkendes Zimmer. »Das Bild hat sie für mich gemalt. Wussten Sie, dass sie künstlerisch begabt war? Bild und Text stammen von ihr.«
Adina las ein Gedicht, in schnurgeraden Lettern auf den Zeichenkarton gemalt, inmitten sich kunstvoll rankender Verzierungen.
»Das klingt sehr nach unerfüllter Liebe«, stellte Adina fest, nachdem sie die drei Strophen halblaut rezitiert hatte.
»Ich möchte Ihnen das Bild schenken. Ich würde mich sehr freuen, wenn es einen guten Platz bei Ihnen findet.«
Adina schaute Frau Rosenkranz überrascht an. »Aber das kann ich doch nicht annehmen.«
»Natürlich können Sie das. Meine Tage hier sind gezählt. Ich ziehe in eine Seniorenresidenz und habe nicht mehr so viel Platz. Und was meinen Sie, was meine Kinder mit dem ganzen Zeug hier machen! Da ist es mir viel lieber, wenn wenigstens einige Stücke in gute Hände kommen.«
Adina umarmte die Frau, ohne nur einen Moment zu zögern. »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll.« Ein Tränchen kullerte über Adinas Gesicht.
Frau Kievernagel schaute auf die Uhr, dann zu Adina. »Bei dem Wetter …«, begann sie. »Ja, ich weiß, wir müssen. In der Kälte ist es noch unanständiger als sonst, jemanden warten zu lassen. Soll ich Sie in meinem Auto mitnehmen? Ich könnte Sie anschließend zurückbringen«, bot Adina an.
»Das ist sehr freundlich von Ihnen. Ich wohne hier in der Nähe«, antwortete Frau Kievernagel.
Der Historiker stieg aus dem Auto, als Adina mit Frau Kievernagel am Friedhof parkte. Er hatte für Adina einen Umschlag mit Fotos ihrer Urgroßmutter mitgebracht. »Das ist alles, was ich im Moment gefunden habe. Bei mir stehen noch einige Kartons zur Auswertung. Wenn Sie mir Ihre Kontaktdaten dalassen …«
Adina hatte bereits nach ihrem Visitenkartenetui gegriffen und ein Kärtchen herausgenommen.
»Ich würde mich sehr freuen. Aber erst einmal herzlichen Dank für Ihre Mühe. Ich weiß gar nicht, wie ich das wiedergutmachen kann. Ich wurde heute so reich beschenkt.«
»Keine Ursache. Ich beschäftige mich ohnehin mit dem Thema. Und forschen ist eher eine einsame Arbeit. Es ist eine große Freude für mich, wenn ich jemandem eine Freude machen kann. Im Alter kommt man darauf, dass an dem Spruch Geben ist seliger denn nehmen tatsächlich etwas dran ist.«
Der Historiker hielt Adina einen kleinen Vortrag über die Geschichte der Juden in Chemnitz, während sie über den Jüdischen Friedhof schlenderten. Nicht alle Wege waren schneefrei, sodass sich der Rundgang auf die Hauptwege konzentrierte. Adina erfuhr etwas über die Stadt im Allgemeinen und das Leben ihrer Urgroßmutter im Besonderen. »Sie bieten viele Vorträge und Rundgänge an?«, fragte Adina.
»Ja, seit ich im Ruhestand bin, habe ich das Programm erweitert«, sagte der Historiker.
»Das ist gut, ich werde den Kontakt in mein Tourismusportal aufnehmen und zu den Terminen verlinken. Sind Sie damit einverstanden?«
»Aber natürlich. Vorträge ohne Besucher sind grässlich. Da kann man immer Unterstützung gebrauchen. Und kostenlose sowieso.«
Adina freute sich, dass sie dem Mann eine winzige Gegenleistung für seine Hilfe bieten konnte. Sie verabschiedete sich von ihm und fuhr mit Frau Kievernagel zum Kaßberg. Dann gab sie die Heinrich-Zille-Straße ins Navi ein. Einen Parkplatz fand sie gleich um die Ecke bei der hübschen Buchhandlung am Brühl.
Das Schalom war gut gefüllt. »Herzlich willkommen! Wir haben dir einen der besten Plätze reserviert. Und sicher bist du da auch, gleich neben unseren Chemnitzer Beamten«, begrüßte der Wirt Adina, nachdem diese das Restaurant betreten hatte.
»Hallo, Uwe, ich freue mich schon seit gestern, als ich den ersten Tag in Chemnitz unterwegs war.« Der Mann mit der dunkelroten Schürze und der Kippa auf dem Kopf führte sie zum Platz.
»Das ist Adina Pfefferkorn. Sie hat euch damals den Verrückten geliefert, der überall Beutekunstjäger gewittert hat. Die Sache in den Kunstsammlungen«, stellte der Wirt Adina den Männern vom Nachbartisch vor. Sie wusste für einen Moment nicht, wie sie sich verhalten sollte. »Wir kennen uns«, rief ein hagerer Mittdreißiger von der hinteren Stirnseite. »Ich habe damals die Anzeige aufgenommen. Kriminalhauptkommissar Müller, Sie erinnern sich sicherlich.« Damit war das Eis gebrochen, obwohl Adina den Mann nicht wiedererkannt hätte. Die Beamten boten ihr einen freien Platz an ihrer Tafel an. »Ich werde erst etwas essen, dann können wir an Ihrem Tisch schwatzen, wenn Sie nichts dagegen haben«, antwortete sie und setzte sich auf ihren reservierten Platz.
»Das ist schon mein zweites jüdisches Restaurant innerhalb einer Woche. Vor ein paar Tagen war ich im Feinberg’s in Berlin«, erzählte Adina, als Uwe ihr die Speisekarte reichte.
»Und?«
»Anders als hier, mehr sephardisch, Sabich, Shakshuka, Kebab, Kibbeh, also alles, was man aus der orientalischen Küche kennt. Es gibt aber viele Sachen, die ihr hier habt. Natürlich Zackenbarsch in scharfer marokkanischer Soße, also Chraime, Hummus, Falafel und all die Mezze-Vorspeisen. Ich glaube, gefilte Fisch, Borschtsch, Kneidlach oder Tscholent und solche osteuropäischen Sachen haben sie nicht auf der Karte. Super lecker ist es aber hier wie dort.«
»Danke. Na, dann nimm doch heute etwas Aschkenasisches. Blinzes, Latkes, Hühnchen …«
»Erst bringst du mir ein Simcha. Ich muss heute zurück, da ist nichts mit viel Alkohol. Ein kleines Bier geht aber. Ich bin mehr als eine Stunde da. Und wenn du mit dem Bier kommst, weiß ich, was ich esse.«
Der Kellner brachte das Bier. Adina gab ihre Bestellung auf. »Hummus muss sein. Dann würde ich gern die jiddische Hühnersuppe probieren. Damit dürfte die Sättigungsgrundlage geschaffen sein. Lattkes mit Gemüse könnten gerade noch reinpassen.«
»Klar, du schaffst das. Es dauert ein wenig.«
Adina nahm einen Schluck Bier, wischte sich den Schaum von den Lippen und wandte sich den Beamten zu. »Ganz schön was los in Chemnitz. Der Rummel um die Kulturhauptstadtbewerbung, die ganzen dämlichen Störmanöver und jetzt ein Toter.«
»Das hat sich bis in die Hauptstadt herumgesprochen?«, fragte der Mann, den sie bereits kannte.
»Klar, Herr Müller. Wir Berliner Pflanzen sind immer gut informiert, und Journalisten sowieso. Aber ich wohne zurzeit im Erzgebirge. Ich war nur ein paar Tage in Berlin, mit meinem Auftraggeber sprechen, meine Eltern besuchen, nach meiner Wohnung sehen. Die Gegend hier ist mir so ans Herz gewachsen. Da zieht es mich immer schnell zurück.« Das ironische »vor allem im Winter« verkniff sie sich.
Kriminalhauptkommissar Müller setzte zum Sprechen an. Sein Tischnachbar kam ihm zuvor. »Ich bin der Harald. Und der Herr Müller, der heißt Steffen.«
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