Für ein komplettes Frühstück war es ein wenig spät. Deshalb lief Adina zur Gastromeile in der Inneren Klosterstraße und suchte sich ein Café mit einem kleinen Speiseangebot. Von hier aus war es nicht so weit zum Kulturhauptstadtbüro.
»Adina Pfefferkorn? Sie hatten einen Termin mit unserem Chef. Leider müssen Sie mit mir vorliebnehmen. Er musste kurzfristig weg. Die Geschichte mit dem Auto, Sie wissen schon. Ich bin seine Vertretung«, stellte sich die Blondine am Tresen vor. »Schauen Sie, das hat er für Sie vorbereitet.«
Adina nahm eine Mappe mit Papieren entgegen. »Wie war Ihr Name?«, fragte sie die Mitarbeiterin. »Frau Kemnitzer. Wie Chemnitz, nur mit K und er am Ende. Das kann man sich leicht merken. Nehmen Sie doch Platz und schauen Sie alles in Ruhe durch. Wenn Sie Fragen haben, sprechen Sie mich an. Für Details würde ich vorschlagen, dass Sie einen neuen Termin vereinbaren, wenn der Trubel hier nachgelassen hat.«
»Das wäre dann 2026, schätze ich. So viel Zeit habe ich nicht«, erwiderte Adina. Die Blondine prustete los.
»Ich meine den Trubel mit dem Mord.«
Oha, dachte sich Adina. Endlich hat jemand das böse M-Wort ausgesprochen. »Ja, ich glaube, das ist das Beste. Wenn Sie nichts dagegen haben, nehme ich die Mappe mit nach Hause. Ich melde mich dann telefonisch oder per Mail.« Adina packte die Sachen in ihre Tasche, ohne eine Antwort abzuwarten.
»Natürlich. Wir hoffen, die Sache ist bald aufgeklärt. Mit dem Skoda haben wir einiges vor.«
»Ach ja?«
»Klar, er war so ein toller Aufreger. Und bewährte Waffen nutzt man bekanntlich weiter. Sie sind eine Frau, da muss ich nichts erklären!«
»Stimmt! Hatte das nicht Brigitte Reimann in ihrem Kultroman Franziska Linkerhand über den Minirock gesagt? ›Bewährte Waffen verschrottet man nicht.‹ Ein Lieblingsspruch meiner Mutter. Dann tschüss bis zu besseren Tagen«, verabschiedete sich Adina. Die freie Zeit nutzte sie für einen Spaziergang durch den Wasserwerkspark, der direkt an der Strecke nach Annaberg liegt. Angesichts der Temperaturen reichte ihr eine kleine Runde. Dann fuhr sie die B95 zurück in ihre Annaberger Bleibe.
Am Abend schickte Oli eine Sprachnachricht.
»Ich bin ziemlich fertig, früh die Fahrt, dann arbeiten und Wohnung einrichten. Aber meine Bude ist wunderschön, in Dresden-Neustadt, gleich an der Kunsthof-Passage. Das wird dir gefallen, Adina. Lass uns morgen telefonieren. Ich gehe duschen und ins Bett.«
»Ich war fleißig, obwohl nicht alles wie erwartet lief. Der Chef vom Kulturhauptstadtbüro konnte mich nicht empfangen. Er war wegen einer Mordsache unterwegs, sagte seine Mitarbeiterin. Mehr konnte ich nicht erfahren. Bis morgen, Schatz«, sprach Adina ins Handy.
Als der Handywecker Adina mit sanftem Israel-Jazz weckte, klingelte auch ihr Handy. »Guten Morgen, Schatz«, flötete ein gut gelaunter Oli durch die Leitung.
»Ich bin gerade am Aufwachen«, hauchte Adina zurück.
»Ist es warm im Bett, so ohne mich?«, fragte Oli.
»Es könnte wärmer sein. Ich hoffe, bei dir auch«, erwiderte Adina.
»Ich bin schon vor einer Weile aufgestanden, also ganz kalt. Ich muss gleich los und wollte dir nur einen guten Morgen wünschen«, verriet Oli.
»Ich bin schon fast aufgestanden und auf dem Weg nach Chemnitz. Heute treffe ich mich mit der Frau, die meine Urgroßmutter kannte. Und abends bin ich im Schalom«, sagte Adina.
»Ich will dich gar nicht aufhalten. Eine gute Fahrt wünsche ich dir. Vielleicht können wir heute Abend telefonieren.«
Adina nahm eine Dusche, putzte ihre Zähne und zog mehrere Lagen übereinander an, um sowohl für innen als auch außen gerüstet zu sein. Nach einem kleinen Kaffee startete sie. Der Verkehr war mäßig. Als sie Klaffenbach passierte, fiel ihr ein, dass sie lange nicht am Wasserschloss war. Sie dachte noch nach, wie sie einen Besuch in ihren Terminplan einbauen könnte, als der Blitzer in Harthau ping machte. Na prima, das geht gut los, sagte sie laut vor sich hin. Bis zum Ziel waren es noch etwa 15 Minuten auf der Bundesstraße und ein kurzes Stück Nebenstraße.
»Hübsch haben Sie es hier. Und so eine schöne Aussicht auf den Kaßberg. Wie muss das erst sein, wenn alles grünt und blüht oder der Herbst seine Farben ausschüttet«, sagte Adina nach der Begrüßung zu Frau Rosenkranz. Der Tisch war für vier Personen gedeckt. »Das ist meine Tochter Leah. Frau Kievernagel von der Jüdischen Gemeinde wird gleich kommen. Nehmen Sie doch inzwischen Platz. Kaffee oder Tee?«
Adina entschied sich für Tee. Einen Kaffee hatte sie schon in Annaberg getrunken, bevor sie losgefahren war. Die Tochter übernahm das Eingießen.
Frau Rosenkranz wärmte ihre Hände an der Tasse, obwohl der Raum gut geheizt war. Dann begann sie zu erzählen: »Ihre Urgroßmutter Adina war eine bemerkenswerte Frau. Was wissen Sie von ihr?«
»Nicht viel. Als sie starb, war ich erst vier. Meine Großmutter hat immer davon gesprochen, dass sie ihre Mutter Adina nach Berlin holen wollte. Aber es ist offenbar nicht so leicht, einen alten Baum zu verpflanzen. Sie war wohl zwei, drei Mal bei uns in Westberlin, aber sie mochte den Großstadttrubel nicht. Dabei ist Chemnitz nicht unbedingt ein Dorf. Und jetzt, wo es Kulturhauptstadt werden soll …«
»Das mit der Kulturhauptstadt ist eine feine Sache. Nur leider hat sie schon ein erstes Opfer gefordert. Haben Sie von dem Toten im Schlossteich-Auto gehört?«
»Ich habe es in der Freien Presse gelesen. Wissen Sie mehr darüber?« Adina nahm die Fährte auf, obwohl ihr Besuch ein ganz anderes Ziel verfolgte.
»Na ja, etwas Genaues weiß ich nicht. Nur dass der Mann etwas mit der Chemnitzer Bewerbung zu tun hatte. Und dass es da gewisse Neider gibt, zum Beispiel in Mittelfranken, kann man aus diversen Zeitungsbeiträgen herauslesen.«
Adina dachte nach. Ihr war bekannt, dass Ostdeutsche mehr zwischen den Zeilen lasen als in den Zeilen. Vor allem herauslasen. »Sie meinen, da wollte jemand die Entscheidung für Chemnitz verhindern und den Titel nach Nürnberg holen?«
»Ganz so vielleicht nicht. Dafür wurde er zu spät umgebracht. Aber irgendwer hat ihm den Erfolg nicht gegönnt und war vielleicht sauer, weil es in Nürnberg nicht geklappt hat.« Es klingelte. Die Tochter von Frau Rosenkranz stand auf und betätigte den Türöffner.
»Frau Kievernagel. Ich habe gehört, Sie kennen sich bereits«, sagte sie zu Adina. »Ja, wir hatten schon miteinander zu tun, nur hatte ich damals nicht viel Zeit für meine privaten Forschungen.«
»Bevor ich es vergesse: Unser Historiker erwartet Sie um 13 Uhr am Friedhof. Ich werde Sie begleiten. Widerspruch zwecklos«, sagte Frau Kievernagel im Anschluss an die Begrüßung.
Nachdem Frau Rosenkranz die letzte Tasse mit duftendem Tee grusinischer Art, wie sie betonte, gefüllt hatte, begann sie über Adinas Urgroßmutter zu sprechen.
»Adina Pfefferkorn hatte nach dem Ersten Weltkrieg ein Lehrerseminar besucht. Sie sprach fließend Englisch. Eine Karriere blieb ihr jedoch verwehrt, und genauso ihrem Mann, einem Arzt. Der war katholischer Christ, durfte aber trotzdem nicht mehr praktizieren. In seiner Akte stand, dass er eine Frau mosaischen Glaubens hatte. Es half nichts, dass sich die beiden pro forma scheiden ließen. Damals lebten sie in Niederschlesien, nicht weit entfernt von Waldenburg, das heute Walbrzych heißt.«
Adina versuchte, ihr Herzklopfen zu unterdrücken.
»Wie kam sie nach Chemnitz?«
»Sie hatte hier Freunde, die ihr halfen, nachdem sie mit den Kindern allein war und die Ostgebiete geräumt wurden. Sie wissen sicher, dass ihr Mann frühzeitig starb und sie allein durchkommen musste. Da sie fließend Englisch sprach, konnte sie als Übersetzerin arbeiten, allerdings wurde Englisch vorerst im Osten nicht so sehr gebraucht. Da war man mit Russisch besser dran. Im hohen Alter gab sie Kurse an der Volkshochschule und Privatunterricht für Studenten. Bestimmt begeisterte sie ihre Tochter für Sprachen, also Ihre Großmutter Flora. Die wurde Dolmetscherin.«
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