Dieses erneuerte Konzept erlebt seit einigen Jahren neuerlich eine Krise, da die hohe Mobilität und neue Medien das gewohnte Beziehungsgefüge in unserer Gesellschaft tiefgreifend verändert haben und immer noch verändern. Zum gesellschaftlichen Wandel kamen in vielen Diözesen Reorganisationsmaßnahmen hinzu, die viele Kräfte binden. Damit werden missionarische Initiativen vor große Herausforderungen gestellt.
2. Spezifische Merkmale der Missionspredigt der Redemptoristen
Nicht zuletzt durch persönliche Erfahrung – als Kind habe ich 1958 in meiner Heimatgemeinde noch eine Volksmission im alten Stil erlebt und seit 1972 war ich selbst immer wieder an missionarischen Seelsorgeprojekten beteiligt – habe ich an der Missionspredigt Spezifika wahrgenommen, die mir nach wie vor bedenkenswert erscheinen.
2.1. Existenzielles Betroffensein
Missionspredigten unterscheiden sich von anderen Predigten darin, dass diese darauf abzielten, existenziell betroffen zu machen. Erreicht wurde Betroffenheit vor allem durch Erzählen von Selbst-Erlebtem, durch anschauliche exemplarische Beispiele, Parabeln, durch eine bilderreiche Sprache sowie durch Vergleiche und Metaphern.
Es wäre schwer zu ertragen, wenn die Predigt jeden Sonntag so tief unter die Haut ginge, dass sich die Hörer_innen davon existenziell betroffen fühlten. Auch reicht der zeitliche Rahmen einer Predigt im Gemeindegottesdienst normalerweise nicht, um auf existenzielle Lebensfragen ausreichend Antwort zu geben, denn über kognitive Lösungsangebote hinaus braucht es Hilfen zur emotionalen Verarbeitung. Missionspredigten fanden daher in einem speziellen Setting statt. Sie dauerten für gewöhnlich auch länger als Predigten im normalen Gemeindegottesdienst. Als Regel galt: Eine Predigt darf lang dauern, wenn sie nicht langweilig ist.
Nach Paulus kommt der Glaube vom Hören (Röm 10,17). In der Überlieferung der Synoptiker bedauert Jesus, dass Menschen hören und doch nicht hören (vgl. Mk 4,12 und Jes 6,9f), bzw. fordert er auf: „Wer Ohren hat zum Hören, der höre!“ (Mk 4,9). Hören wird hier offenbar als ein komplexerer Vorgang als das akustische Wahrnehmen und das kognitive Aufnehmen und Einordnen des Gesagten verstanden. Die Medien wissen darum und haben Strategien entwickelt, wie sie ihre Adressat_innen nicht nur auf der Verstandesebene erreichen, sondern möglichst tief ins Bewusstsein und auch ins Unbewusste eindringen. Die Missionspredigt versuchte mit den Mitteln der Rhetorik zu einem umfassenden Hören zu führen. Das war aber immer auch eine Gratwanderung des guten Geschmacks.
2.2. Grundthemen des Lebens und Glaubens
Um die existenziellen Fragen der Hörerinnen und Hörer anzusprechen, spielt die Auswahl der Themen eine besondere Rolle. Tief in die Erinnerung vieler älterer Katholik_innen hat sich die Höllenpredigt als Markenzeichen der Volksmission eingeprägt. Diese gehört zwar schon lange nicht mehr zum Missionsrepertoire, das „respice finem“ klingt aber nach wie vor in vielen Themen an. Wichtige Themenbereiche waren die Frage nach dem Sinn des Lebens, nach dem Gottesbild und der persönlichen Gottesbeziehung, Jesus Christus als Erlöser, der aus Liebe zu den Menschen sein Leben hingegeben hat, Tod und Auferstehung, die Notwendigkeit der Umkehr und der Versöhnung mit Gott und den Mitmenschen, sowie Fragen einer christlichen Lebenspraxis und Spiritualität: Gebet, Wort Gottes, Eucharistie, Gemeinde u. a. m. Nicht fehlen durfte in einer redemptoristischen Mission Maria als Vorbild christlichen Lebens und Glaubens. 7
Alfons M. von Liguori war in seiner persönlichen Lebensgeschichte vom Geheimnis der Liebe Gottes, das sich in Christus geoffenbart hat, so tief berührt, dass dieses Motiv zum Grundton seines Lebenswerkes wurde und er diese Ausrichtung auch von den Missionaren seiner Gemeinschaft einforderte.
Nach Möglichkeit waren Missionspredigten in Feiern eingebettet: Feiern der Tauf- und Firmerneuerung, Buß- und Versöhnungsfeiern, Totengedenk- und Auferstehungsfeiern, eine Prozession oder Wallfahrt zu einem Marienbild oder Marienaltar… Stimmige und zugleich stimmungsvolle Feiern können Herz und Gemüt bewegen und zur persönlichen Auseinandersetzung mit existenziellen Lebensthemen hinführen. Feiern boten immer auch Anlass, verschiedene Gruppen in die Gestaltung einzubeziehen: Chöre, Musikkapellen oder Ensembles, Traditionsgruppen, Einsatzkräfte wie Feuerwehr und Erste Hilfe – alles, was eine Gemeinde aufbieten konnte.
2.3. Katechetische Elemente
Die Missionspredigt enthielt meist auch katechetische Elemente. Ursprünglich orientierte sich die Themenreihe einer Mission an den großen theologischen Traktaten und die Prediger waren angehalten, die Predigt so aufzubauen, dass sie das ganze Thema abdeckt. „Eine gute Missionspredigt erschöpft das Thema, den Prediger und die Hörer“ hieß es scherzhaft. Der Aufbau einer Predigt war so gestaltet, dass er einen systematisch-inhaltlichen Leitfaden zum jeweiligen Thema anbot, den sich die Hörer_innen einprägen konnten. Immer wieder traf ich Menschen, die von früheren Missionen die einzelnen Predigtpunkte so tief in Erinnerung hatten, dass sie diese nach Jahrzehnten noch aufzählen konnten.
Neben den Missionspredigten gab es auch sog. Standeslehren für Männer, Frauen, Burschen, Mädchen und Kinder. Diese boten Gelegenheit, auf moralische Fragen, die diese Menschengruppe besonders betrafen, einzugehen. Gleichzeitig dienten sie der Vorbereitung auf die persönliche Beichte. Im Laufe der Zeit mutierten die Standeslehren zu Angeboten für bestimmte Zielgruppen: Senior_innen, Erwachsene, Jugendliche und Kinder, Eheleute, Alleinstehende oder auch Geschiedene und Wiederverheiratete. Auf diese Weise wollte man auf zielgruppenspezifische Interessen und auf Fragen der christlichen Lebensgestaltung konkreter eingehen.
2.4. Die Gemeinde als Ort der Missionspredigt
Mission und Umkehr brauchen einen Raum, in dem sie stattfinden können. Paulus ging in Athen auf den Areopag und holte sich dort eine Abfuhr. Normalerweise hielt er, wenn er in eine Stadt kam, Ausschau nach einer Synagoge, in der Juden zusammenkamen und Gottesdienst feierten. Die Predigten der Apostelgeschichte beginnen meist mit dem Nacherzählen der Heilsgeschichte und erzählen diese dann um. Dies setzt einen gemeinsamen Verstehenshorizont voraus.
Sehr oft wird mit Mission die Vorstellung verbunden, dass sich jemand hinstellt, ein mehr oder weniger persönliches Glaubenszeugnis gibt und so zu predigen beginnt. Das impliziert die missionstheologisch fragwürdige Haltung „ich habe die Frohe Botschaft, die Wahrheit, den besseren Glauben und bringe diese den noch nicht Gläubigen“. In der Tradition der Volks- und Gemeindemission gingen die Missionare einen anderen Weg. Sie begannen ihre Verkündigung mitten in der Gemeinde.
Die kirchlichen Dokumente der letzten Jahre heben drei Zielrichtungen der Mission hervor. Evangelii Gaudium nennt als Erstes die „gewöhnliche Seelsorge“, „an zweiter Stelle erwähnen wir den Bereich der ‚Getauften, die jedoch in ihrer Lebensweise den Ansprüchen der Taufe nicht gerecht werden‘“, und schließlich die „Verkündigung des Evangeliums an diejenigen, die Jesus Christus nicht kennen oder ihn immer abgelehnt haben“ (EG 14). Die Enzyklika Evangelii Nuntiandi des Papstes Paul VI. spricht von Evangelisierung bzw. Neuevangelisierung und meint damit, dass wir uns auf allen Ebenen – persönlich, als Gemeinde, als Kirche – neu dem Angebot und Anspruch des Evangeliums stellen und uns vom Evangelium umgestalten lassen, ein jeder persönlich, aber auch bis in alle Bereiche unserer Lebenskultur hinein (vgl. EN 20).
Meiner Erfahrung nach ist eine solche Evangelisierung nicht ohne die Einbettung in irgendeine Form von Gemeinde möglich. Es braucht einen Raum, in dem das Evangelium fruchtbar werden und wachsen kann. Schwierig ist dies natürlich in einer Zeit, in der das ganze Beziehungsgefüge im Umbruch ist, in der Strukturreformen notwendig sind, in der sich Beziehungsgeflechte dank höherer Mobilität und neuer Kommunikationstechniken geändert haben und immer weiter verändern. Predigt als Auslegung der Frohen Botschaft, als Miteinander-Teilen des Wortes Gottes setzt Gemeinschaft voraus, ereignet sich in Gemeinden. Missionspredigt ist eine Inszenierung des Wortes Gottes im Raum der Gemeinde. In ihr findet das Wort Gottes einen Echoraum und kann es Wellen schlagen.
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