3. An dieser Stelle nun muss unterschieden werden zwischen einer transzendentalen Gutheit der Motivation, gleichsam als Möglichkeitsbedingung der Erfüllung von Normen, und der daraus folgenden kategorialen Richtigkeit der Einzelhandlungen. Auf diesem Hintergrund ist dann die Grundentscheidung der „transzendenzverwiesene(n) Ausgriff der Freiheit auf das Gute, als Möglichkeitsbedingung für die gute und richtige Verwirklichung kategorialer Güter.“ 7Hier setzt eine richtig verstandene katholische Existentialethik als Ethik der Entscheidung an; 8gedacht ist an eine schrittweise Umsetzung der sittlichen Vorentscheidung 9und der daraus folgenden Grundentscheidung in konkrete Einzelentscheidungen; der Last des notwendigen Kompromisses kann dabei nicht ausgewichen werden.
4. Daraus lässt sich nun ein erster Ansatz zu einer Theologie der Berufung, verstanden als lebensgeschichtliche Entfaltung einer Grundentscheidung zum Guten 10, skizzieren: Eine so verstandene „Berufung zum Heil aus Gnaden prägt dem Gesamtspektrum sittlichen Handelns das unverwechselbare Profil ein; der Christ handelt immer als Christ, und das ist zunächst eine ontologische Aussage.“ 11Und das heißt jetzt näherhin und mit Blick auf das neue Selbstbewusstsein des Christen, das im theologischen Begriff des Glaubens gefasst wird: „Wenn Gnade darin besteht, Gott auf den Spuren Christi denken zu können, und wenn im Gefolge dessen anthropologische Grunddaten mit den ihnen gemäßen ethischen Zielsetzungen entdeckt werden, dann agiert die Grundentscheidung als Impulszentrum dieses Vorgangs. Sie speichert das durch den Glauben erwirkte Vorwissen von der ewigen Vollendung und schmilzt es handlungsrelevant um.“ 12Nochmals anders gewendet: „Die Naturneigung zum Guten erscheint als personale Befindlichkeit, die zur expliziten Stellungnahme nicht nur herausfordert, sondern im Verlauf der Lebensgeschichte jeweils unterschiedliche Thematisierungsgrade annehmen kann, Persönlichkeitswerdung bindet sich an diesen Prozess.“ 13
5. Der Grundentscheidung folgt dann die Lebensentscheidung als erste konkretere Ausformung der grundsätzlichen Entschiedenheit zu einem Leben nach dem Willen Gottes. Dabei steht die Lebensentscheidung in einer Linie mit der geglückten Annahme seiner selbst als von Gott gewollte und in Freiheit gesetzte Persönlichkeit. Diese Selbstannahme aber vollzieht sich ja gerade im Medium der Zeit und angesichts der Vergänglichkeit, ja letztlich des Todes. So verdichtet sich die Lebensentscheidung zur Annahme des eigenen Todes und eines Lebens in der Hoffnung auf die Vollendung des fragmentarisch bleibenden Lebens bei Gott. 14„In ihr verdichtet sich auf exemplarische Weise das Verhältnis des Menschen zu seiner ihm zubemessenen Lebenszeit. Deren gnadenloses Auslaufen stimuliert das Denken, schließlich ist nichts beklemmender als der missliche Verdacht, ein bedeutungsloses Leben, jenseits des tiefen Wunsches nach Erfüllung, gelebt zu haben. Der Schatten des Todes darf nicht die Oberhand behalten, und die Lebensentscheidung stellt sich diesem Verhängnis in den Weg. Der Vergänglichkeit muß ein Projekt eingeprägt werden, dessen Sinnhaftigkeit den Tod überlebt.“ 15Die Berufung zu solch einem unvergänglichen Lebensprojekt bindet sich an die unwiderrufliche Wahl eines Lebensstandes, klassisch in den „Exerzitien“ des hl. Ignatius von Loyola im Medium der einzuübenden Indifferenz 16und hin zur Wahl der sakramental bindenden Ehe 17oder des im Gelübde bindenden Rätestandes. „Ein konkreter Rätestand muß so beschaffen sein, dass er persönliche Entwicklungen auffängt und in ein fest umrissenes Bett lenkt. Es gibt eine gesunde Reibung an den Grenzen, die er vorzeichnet und Entwicklungen nicht ins Uferlose schießen läßt.“ 18Der von Gott zu einer konkreten Lebensentscheidung berufene Mensch ist daher zutiefst immer ein jenseitiger und aus der Hoffnung auf ewige Vollendung lebender Mensch. „In das Rohmaterial der Zeit wird ein Projekt einskulpiert. So zerfließt es nicht richtungslos, sondern steht im Banne einer klaren Zielsetzung, die für den Glaubenden die Form einer Verheißung annimmt.“ 19
6. Im Hintergrund steht eine ausgeprägt neuzeitliche Gnadentheologie, wie sie nach dem Konzil von Trient sich entfaltet hat, nämlich der Molinismus. Dies wird etwa auch in den „Regeln zur Unterscheidung der Geister“ in den schon erwähnten „Exerzitien“ des hl. Ignatius von Loyola deutlich 20: Gottes Wille offenbart und konkretisiert sich in der individuellen Willensentscheidung auf der Grundlage des Dekaloges. „Der Christ versteht seine Wahl, jenseits aller menschlichen und inner-weltlichen Bindungen, als Antwort auf Gottes Treue, wie sie sich ein für alle Mal in Jesus Christus erwiesen hat.“ Das heißt dann konkret Nachfolge Christi: „Die Bedingungen der Nachfolge werden sich exemplarisch auf dem Feld der Lebensentscheidung und der Treue zu ihr zur Geltung bringen. So bleibt die Theologie der Berufung in eine Anthropologie lebensgeschichtlicher Bewährung umzuschmelzen.“ 21
1 K. Demmer , Gottes Anspruch denken. Die Gottesfrage in der Moraltheologie, Freiburg i. d. Schw. 1993, 120, Anm. 28.
2 Ders ., Die Wahrheit leben. Theorie des Handelns, Freiburg i. Br. 1991, 33.
3 Ders ., Fundamentale Theologie des Ethischen, Freiburg i. d. Schw. 1999, 243.
4Anselm von Canterbury, Proslogion II.
5Vgl. P. Fransen , Pour une psychologie de la grace divine, in: Lumen vitae 12 (1937) 209–240.
6Vgl. II. Vaticanum, Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ Nr. 22.
7 K. Demmer , Fundamentale Theologie des Ethischen, 244; vgl. auch H. Reiners , Grundintention und sittliches Tun, Freiburg i. Br. 1966.
8Vgl. J. Brantl , Entscheidung durch Unterscheidung. Existentialethik als inneres Moment einer medizinischen Ethik in christlicher Perspektive, Münster 2007; daneben D. J. Dorr , Karl Rahner’s „Formal Existential Ethics“, in: Irish Theological Quarterly 36 (1969) 211– 229; B. Fraling , Vermittlung und Unmittelbarkeit. Beiträge zu einer existentialen Ethik, Freiburg i. d. Schw. 1994; D. M. Nelson , Karl Rahner’s Existential Ethics, in: The Thomist 51(1987) 461–479.
9Vgl. H. Kramer , Die sittliche Vorentscheidung. Ihre Funktion und ihre Bedeutung in der Moraltheologie, Würzburg 1970.
10Vgl. zum Hintergrund M. Flick / Z. Alszeghy , L’opzione fondamentale della vita morale e la grazia, in: Gregorianum 41 (1960) 593–619.
11 K. Demmer , Fundamentale Theologie des Ethischen, 244.
12Ebd., 245; vgl. auch ders ., Treue zwischen Faszination und Institution, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 44 (1997) 18–43.
13 Ders ., Die Wahrheit leben, 191; vgl. auch G. Höver , Sittlich handeln im Medium der Zeit, Würzburg 1988.
14Vgl. N. Hinske , Todeserfahrung und Lebensentscheidung, in: Trierer Theologische Zeitschrift 82 (1973) 206–227.
15 K. Demmer , Fundamentale Theologie des Ethischen, 249.
16Vgl. neuestens dazu D. Terstriep , Indifferenz. Von Kühle und Leidenschaft des Gleichgültigen, St. Ottilien 2009; klassisch immer noch E. Przywara , Majestas divina, Augsburg 1925.
17Vgl. K. Demmer , Die Ehe als Berufung leben, in: Intams Review (Brüssel) 2 (1996) 39–62.
18 Ders ., Fundamentale Theologie des Ethischen, 251, Anm. 43; ders ., Die Lebensentscheidung. Ihre moraltheologischen Grundlagen, Paderborn 1974.
19 Ders ., Gott denken – sittlich handeln. Fährten ethischer Theologie, Freiburg i. d. Schw. 2008, 247.
20Vgl. L. Bakker , Freiheit und Erfahrung. Redaktionsgeschichtliche Untersuchungen über die Unterscheidung der Geister bei Ignatius von Loyola, Würzburg 1970; A. Keller , Zur „Unterscheidung der Geister“ in den Ignatianischen Exerzitien, in: Geist und Leben 51 (1978) 38–54; M. Schneider , „Unterscheidung der Geister“. Die ignatianischen Exerzitien in der Deutung von E. Przywara, K. Rahner und G. Fessard, Innsbruck 1987; G. Switek , „Discretio spirituum“. Ein Beitrag zur Geschichte der Spiritualität, in: Theologie und Philosophie 47 (1972) 36–76.
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