Der primäre Zweck des Dehnreflexes besteht darin, vorsichtshalber die Stärke der Muskeldehnung zu kontrollieren, um eine Überdehnung und Schädigung des Muskels zu verhindern. Durch die Rekrutierung eines großen Anteils von Muskelfasern in jedem Muskel in sehr kurzer Zeit stellt diese automatische Antwort sicher, dass sich der Muskel nur in einem sicheren Ausmaß verlängert, bevor er sich verkürzt. Auch wenn dies als automatisch regulierte Sicherheitsmaßnahme betrachtet werden kann, fanden Trainer und Sportwissenschaftler es vorteilhaft, diese Reaktion zum Zweck einer Leistungsverbesserung sicher zu trainieren.
ABB. 1.2Muskelspindelfasern im Muskelbauch.
Sportwissenschaftler beziehen sich häufig auf die Amortisations- oder Übergangsphase, um den Beginn der exzentrischen Kontraktion durchgängig bis zum Beginn der konzentrischen Kontraktion bei einer plyometrischen Bewegung zu beschreiben. Die Amortisationsphase ist die Phase, in der sich ein Sportler auf eine explosive Bewegung wie einen Sprung vorbereitet. Für einen Weitspringer umfasst die Amortisationsphase den Beginn der Berührung mit dem Absprungbrett bis zum Beginn der Absprungbewegung, wenn sich der Körperschwerpunkt über den Fuß verlagert. Bei Hoch- und Weitspringern ist eine lange Amortisationsphase unerwünscht, weil sie zu einem signifikanten Kraftverlust führt. Bei einer langen Amortisationsphase geht nicht nur jegliche elastische Komponente des Sprungs verloren, sondern sie begrenzt auch das Aktivierungspotenzial des Dehnreflexes und die daraus resultierende Kraft der konzentrischen Kontraktion. Daher ist es im Interesse der Athleten, bei der Ausführung einer kraftvollen plyometrischen Aktion die Dauer der Amortisationsphase zu verkürzen (Wilson, Elliott und Wood 1991). Das Ausmaß der Kraft, die für die Amortisationsphase aufgebracht wird, bestimmt die daraus resultierende Kontraktionskraft für den konzentrischen Anteil an der Muskelaktion, insbesondere bei einem gut trainierten Athleten.
Die Eigenschaften von Muskeln und Sehnen
Die Muskelspindelfasern sind die primären sensorischen Mechanismen, die bei einer plyometrischen Bewegung eine kraftvolle konzentrische Kontraktion auslösen. Ein weiteres sensorisches Organ in der Muskel-Sehnen-Einheit ist das Golgi-Sehnenorgan ( Abbildung 1.3). Dieser besondere Dehnungsrezeptor befindet sich in den Sehnen und übermittelt bei kraftvoller Dehnung an das Rückenmark das Signal, einen kontrahierten Muskel zu hemmen. So wurde die Aktion des Golgi-Sehnenorgans als Schutzmechanismus geschildert, um von dem Muskel eine übermäßige Spannung und mögliche Verletzung abzuwenden. Dieser Reflexmechanismus wird demonstriert, wenn eine Person aus extremer Höhe springt, auf den Boden auftrifft und sich dabei gelegentlich bei der Landung abrollt, um die Kräfte abzuleiten und eine Verletzung zu vermeiden. Es ist wichtig, zu erkennen, dass beide sensorischen Organe ins Spiel kommen können, wenn ein plyometrisches Übungsprogramm geplant und umgesetzt wird, insbesondere bei der Bestimmung optimaler Sprunghöhen. Ein Sprung von einer Box mäßiger Höhe kann genügend Kraft produzieren, um eine exzentrische Dehnung zu erzeugen, die die Muskelspindeln zu einer kraftvollen konzentrischen Reaktion aktiviert. Ein Sprung von einer übermäßig hohen Box jedoch kann eine Sehne rasch dehnen und eine inhibitorische Reaktion des Golgi-Sehnenorgans bewirken, die letztlich eine konzentrische Kontraktion verhindert.
Während die sensorischen Mechanismen, die für eine explosive Muskelreaktion erforderlich sind, entscheidende Elemente der Plyometrie sind, spielen die kontraktilen Komponenten des Muskels bei der Erzeugung der Bewegung eine bedeutende Rolle. Die grundlegenden krafterzeugenden Elemente des Muskels sind die Aktin- und die Myosin-Myofilamente, die aus einzelnen Aktin- und Myosinmolekülen gebildet werden. Die Myofilamente bilden gemeinsam die Myofibrillen in den einzelnen Muskelfasern. Diese Muskelfasern verbinden sich zu größeren Bündeln aus Muskelfaszikeln. Diese bilden die Skelettmuskeln und bringen die Bewegung des Menschen hervor. In einem sich kontrahierenden Muskel wird die Bewegung initiiert, wenn die Aktin- und Myosin-Filamente Querbrücken bilden und hintereinandergleiten. Die Gleitbewegung erfolgt durch eine zyklische Bindung und Lösung von Myosin an die Aktin-Filamente (Spudich 2001). Wird ein Muskel gedehnt, während er aktiviert ist, ist die isometrische Kraft nach der Dehnung größer als die, die während normaler isometrischer Kontraktionen gleicher Länge erreicht wird (Abbott und Aubert 1952; Rassier et al. 2003). Es wurde postuliert, dass Kraftverbesserung und erhöhte Festigkeit durch eine Querbrücken-Mechanik miteinander verbunden sind: Der Anteil an Querbrücken nach einer Dehnung ist höher als der in Zusammenhang mit einer isometrischen Kontraktion (Herzog und Leonard 2000).
ABB. 1.3Golgi-Sehnenorgan.
Weitere Elemente, die zu den explosiven Leistungseigenschaften eines Muskels beitragen, sind als serienelastische Komponenten bekannt. Dabei werden Muskelfasern einschließlich der Querbrücken bildenden Elemente der Aktin- und Myosin-Myofilamente linear mit elastischen Strukturen wie den Sehnen verbunden. Die Verlängerung dieser serienelastischen Komponenten während Muskelkontraktionen produziert potenzielle Energie, ähnlich der einer aufgezogenen Feder oder eines gedehnten Gummibandes (Hill 1950).
Wie zuvor bereits erwähnt, wird sich bei einer zu langen Amortisationsphase einer plyometrischen Bewegung die potenzielle Energie, die in der Elastizität der Muskeln gespeichert ist, auflösen; die Vorteile der exzentrischen Belastung gehen verloren, primär in Form von Wärmeenergie (Cavagna 1977). Die Belastungsgeschwindigkeit hat sich als folgenreicher erwiesen als die Länge oder das Ausmaß der Dehnung in einem Muskel-Sehnen-Komplex (Bosco und Komi 1979). Eine wichtige Überlegung bei jeder plyometrischen Übung ist, sicherzustellen, dass die Belastungsphase und Vordehnung der serienelastischen Komponenten schnell erfolgen, was eine explosivere und elastischere Bewegung zur Folge hat.
Während die anatomischen Komponenten für die strukturelle und mechanische Ausführung der Muskelkontraktionen bei plyometrischen Übungen entscheidend sind, kommt der neurologischen Energie und der »Software«, von der die »Hardware« mit Energie versorgt wird, eine ebenso große Bedeutung zu. Da explosive Bewegungen eine maximale Rekrutierung verfügbarer Muskelfasern verlangen, ist eine starke neurale Beteiligung zwingend. Wenn das Gehirn und das Rückenmark (das Zentralnervensystem) nicht die richtigen Signale senden, wird unabhängig von der Größe eines Muskels nicht die maximale Kraft entwickelt, die für explosive Bewegungen erforderlich ist. Die Beteiligung des Nervensystems an der Entwicklung von Stärke, Kraft und Geschwindigkeit wird durch den Trainingseffekt der Cross-Education nachgewiesen, insbesondere in Fällen, in denen sich ein Gliedmaß von einer Verletzung erholt. Werden die Muskeln der unverletzten Gliedmaße einem Krafttraining unterzogen, nimmt in denselben Muskeln der untrainierten anderen Gliedmaße die Stärke über denselben Zeitraum um 10 bis 15 Prozent zu (Enoka 1997). Auch wenn viele Athleten glauben, der Aufbau großer und kräftiger Muskeln sei der Schlüssel zur Verbesserung von Stärke, Kraft und Geschwindigkeit, darf der Beitrag neuromuskulärer Anpassungen bei der Entwicklung eines optimalen plyometrischen Trainingsprogramms nicht übersehen werden.
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