Gut ausgebildete Kinder und Jugendliche können, wenn sie ins Erwerbsleben eintreten, ihr wirtschaftliches Schicksal besser in die eigenen Hände nehmen. Das schafft Vertrauen und Selbstständigkeit. Wer seinen Lebensunterhalt unter würdigen Umständen bestreiten kann, ist weniger anfällig für Hassprediger und Ideologen aller Art. Wer auf eigenen Füssen steht und die eigene Familie versorgen kann, fühlt sich sicherer. Wer sicherer ist, hat weniger das Bedürfnis, auf andere herunterzuschauen, sie herunterzumachen, bloss, weil sie eine Minderheit sind. Und wer Diskriminierung ablehnt, der schätzt die Menschenrechte. Frieden und Sicherheit, Menschenrechte und Entwicklung bedingen und bestärken sich gegenseitig. Mit ihrer Arbeit und ihrem Engagement hat Margrit Fuchs ganz direkt zu dieser Stärkung in Ruanda beigetragen.
Wenige Tage vor ihrem Tod bin ich ihr ein zweites Mal begegnet. Als Bundespräsidentin war ich auf Staatsbesuch in Ruanda. Bei dieser Gelegenheit gab es einen Empfang für die kleine Schweizer Gemeinde des Landes in der DEZA-Mission in Kigali. Einmal mehr war ich beeindruckt von ihrem Tatendrang und ihrer Energie. Margrit Fuchs war inzwischen 90 Jahre alt, aber ihre Schaffenskraft für die Verbesserung des Loses der Bevölkerung, insbesondere der Kinder und Jugendlichen, war weiterhin ungebrochen. Und dann kam, eine Woche später, die Nachricht von ihrem Unfalltod. Das hat mich seinerzeit sehr betroffen gemacht.
Es ist deshalb passend, dass jetzt eine Biografie erscheint. Ihre charismatische Persönlichkeit, ihr spannendes Leben und ihr aussergewöhnliches Wirken sind inspirierend!
Genf, im Juni 2017
Margrit Fuchs war eine bescheidene Frau. Um ihre Person machte sie kein Aufheben, und es ging ihr bei dem, was sie machte, immer um die Sache. Diese Sache war die Hilfe für die Armen, die Bedürftigen, die Kinder. Insofern ist es vorstellbar, dass ihr eine Biografie über sich peinlich gewesen wäre. Ich habe mich deshalb in den vergangenen zweieinhalb Jahren immer wieder gefragt, ob mein Vorhaben, ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben, ihr, ihrem Werk und insbesondere ihrem Geist gerecht wird. Doch bin ich zum Schluss gekommen, dass es viele gute Gründe gibt, das Leben von Margrit Fuchs in einer Biografie zu erzählen.
Da ist einmal die Tatsache, dass Margrit auch zehn Jahre nach ihrem Tod noch eine öffentliche Person ist, bekannt durch die Spendenaktionen in der Aargauer Zeitung. Ein weiterer Grund ist, dass sie bis ins hohe Alter aktiv und engagiert blieb. Sie bewies eindrücklich, dass man nie zu alt ist, um etwas anzupacken und sein Leben selbst zu gestalten. Ein dritter Grund dafür waren Margrits Mut und Stärke. Mutig war, dass sie sich nach einer Sinn- und Lebenskrise entschloss, eine neue Herausforderung im Ausland anzunehmen. Mutig war, nach dem Völkermord nach Ruanda zurückzukehren, ungeachtet der Gefahr für Leib und Leben. Mutig war schliesslich, dass sie immer weitermachte und trotz Rückschlägen nicht aufgab. Und sie war eine starke Frau, weil sie sich nie unterkriegen liess. In einem konservativen katholischen Milieu, in dem weibliche Unterordnung unter männliche Autorität «normal» war, fand sie ihren eigenen Weg. Dabei war sie keine Rebellin. Statt Konfrontation zu suchen, setzte sie ihre Intelligenz, ihre Warmherzigkeit, ihre Leutseligkeit und ihren Humor ein. Sie konnte damit Gegensätze überbrücken und sich den Respekt verschaffen sowie die Unterstützung von Vorgesetzten und Behördenmitgliedern gewinnen, mit denen sie zusammenarbeitete und auf die sie für die Verwirklichung ihrer Projekte angewiesen war.
Und zum Schluss: Margrit Fuchs war meine Taufpatin. Wir hatten ein gutes, wenn auch kein enges Verhältnis. Doch ihr Leben in einem für mich exotischen Land hat mich als Jugendlicher immer fasziniert. Sprach sie in mir ein nie gelebtes Fernweh an? Später, als ich erwachsen wurde, kam zur Faszination der Respekt vor ihrer Lebensleistung. Schon früh hatte ich die Idee, dieses Buch zu schreiben, aber erst 2014 wagte ich den Schritt. Alle diese Gründe haben mich in meinem Entschluss bekräftigt, diese Biografie zu Ende zu führen. Ich denke, das spezielle Leben der Margrit Fuchs verdient es, festgehalten zu werden.
Das Leben eines Menschen zu schildern, ist immer eine Herausforderung, besonders wenn diese Person verstorben ist und nicht mehr direkt befragt werden kann. Biografien können kein Leben vollständig wiedergeben; sie können bloss ein Auszug davon sein. Vieles, was einen bestimmten Menschen ausmacht, bleibt im Verborgenen. Und selbst wenn er oder sie sich dazu einmal gegenüber Dritten äussert, geht es oft verloren, weil letztere es nicht festhalten, sei es aus Vergesslichkeit, Desinteresse, vielleicht auch aus Verlegenheit. Die Biografie eines Verstorbenen oder einer Verstorbenen stützt sich notgedrungen auf das, was vorhanden ist: schriftliche Dokumente, mündliche Zeugnisse, Fotografien und Filme, Gegenstände. Doch gibt es Grenzen, was aus einer Quelle herausgelesen werden kann: Schriftliche Dokumente zum Beispiel sind oft unvollkommen beziehungsweise in einem bestimmten Zusammenhang entstanden und können ohne Kenntnis dieses Zusammenhangs gar nicht richtig gelesen werden. Im besseren Fall bleibt uns das Dokument dann unverständlich, im schlimmeren Fall interpretieren wir es falsch. Der Biograf könnte versuchen, Wissenslücken oder Widersprüche durch Erfundenes – Dichtung – zu überbrücken und aufzufüllen. Doch selbst wenn er dieser Versuchung widersteht und nur wiedergibt, was er durch «Fakten» belegen kann, wird er dennoch zum Dichter. Denn jede Interpretation von etwas ist ein Stück weit auch Dichtung. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat denn auch von Biografien als von «Konstruktionen von Leben» gesprochen. Die Biografie zeigt nie das «ganze» oder «wahre» Leben ihrer Protagonistin oder ihres Protagonisten. Man kann sich fragen, ob eine Biografie wirklich auch das «ganze» Leben eines Menschen aufzeigen soll oder nicht. Die meisten Leserinnen und Leser interessieren sich nur für bestimmte Aspekte eines Menschen. Eine Biografie muss deshalb relevant sein, nicht voyeuristisch.
Meine Stellung als Patenkind und die Tatsache, dass ich Margrit Fuchs aus diesem sehr persönlichen Blickwinkel kannte, stellten mich vor die Frage, wie ich diese Biografie schreiben sollte: als subjektiv gehaltenes, von Sympathie geprägtes Lebensbild oder als distanziert-objektives wissenschaftliches Werk, wie mir das meine Ausbildung als Historiker eigentlich nahelegte? Ich entschied mich für eine Art Mittelweg. Einerseits soll dieses Buch das Leben meiner Taufpatin nach wissenschaftlichen Prinzipien und Methoden sowie strikt gestützt auf Quellen dokumentieren. Ich habe also nichts hinzugefügt, das sich nicht irgendwie belegen lässt, und ich habe versucht, alle Fakten, die mir für dieses Leben wichtig scheinen – soweit bekannt – einzubeziehen, auch Fakten, die für Margrit vielleicht weniger schmeichelhaft sind. Wenn ich irgendwo nicht sicher bin, wie die Faktenlage genau ist, erwähne ich das. Andererseits habe ich mich entschlossen, mich selbst nicht auszublenden und mich als Quelle einzubringen beziehungsweise die Lebensbeschreibung durch eigene Erfahrungen anzureichern. Aus diesem Grund eröffne ich diese Biografie mit einem Kapitel zu einem Schlüsselerlebnis, das ich mit meiner Taufpatin hatte: unserer gemeinsamen Reise nach Ruanda. Und auch später trage ich aus meinen eigenen Erinnerungen und Erfahrungen zur Geschichte bei, wo mir das angebracht scheint.
Ein Leben ist nicht nur das Produkt der persönlichen Eigenschaften eines Menschen – seines Charakters, seines Temperaments, seiner Emotionen und seiner eigenen Erfahrungen. Ein Mensch ist immer auch ein Produkt seines Umfelds, mit dem er in ständigem Austausch steht und das er im Gegenzug mit seinen Handlungen (sowie seinen Nichthandlungen) ebenfalls beeinflusst, formt und prägt. Eine Biografie muss deshalb immer auch das Umfeld und die Umwelt der dargestellten Person in Betracht ziehen. Das gilt insbesondere für ein so langes und abwechslungsreiches Leben wie das von Margrit. Ich habe mich deshalb entschieden, zu einzelnen, wichtigen Themen in ihrer Vita «Kontext»-Kapitel einzubauen, die einen bestimmten Aspekt vertiefen. Eilige Leser können auf diese Hintergrundinformationen verzichten, ohne deswegen etwas von Margrits Leben zu verpassen.
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