Fazit
Zwischen dem Begriff »Liebe« und dem der »wahren Liebe« besteht ein Unterschied. Die Liebe stellt sich breitgefächert mit unendlich vielen Ausprägungen und Nuancen dar. Die wahre Liebe ist authentisch, unverfälscht, einfach, klar und vollkommen.
Lebenspraxisbeitrag 1: Liebe lässt sich nicht herstellen, doch bedienen
Prof. Dr. Jesús Hernández Aristu, Dozent, Coach und Autor, Navarra, Spanien
Einleitung zur Fallbeschreibung
Über die Liebe und dann noch über die »wahre« Liebe schreiben zu wollen, scheint mir fast unmöglich zu sein, einfach deswegen, weil Liebe keine Sache ist. Wir können höchstens über die Erfahrung der Liebe schreiben, darüber nachdenken, uns austauschen. Es ginge dann dabei aber nicht darum, ein Objekt verstehen zu wollen, weil eben Liebe keine Ware ist, sondern um das mögliche Echo, das die Beschreibung der Erfahrungsfälle beim Leser hervorruft. Dieses Echoempfinden, die Schwingungen, die eventuell dabei spürbar werden, wären meines Erachtens das Höchste, worauf wir hoffen, das wir jedoch nicht mit dem Verstand realisieren können. Es geht um Resonanzen zwischen dem Fallerzähler und dem Leser.
Ich persönlich habe so oft in meiner Beratungsarbeit diese Coniunctio oppositorum (lateinisch »Zusammenfall der Gegensätze«), die Behebung der Widersprüche im Leben meiner Kunden, erfahren, dass ich selbst nicht aus dem Staunen herauskomme über das, was unter uns Menschen möglich ist. Ich bin dem Autor Claus Walter sehr dankbar für die Aufklärungstheorien, die er vertritt. Er hat mich mit den Prinzipien der Quantenphysik vertraut gemacht und damit meinen Beratungserfahrungen bei bestimmten Kunden einen Namen bzw. eine Erklärung gegeben. Die Benennung ist nicht die Erfahrung selbst, doch sie ist bei der sprachlichen Mitteilung unter uns Menschen als Seinserfahrung sehr hilfreich und hat zur Folge, andere auf ihre eigenen Erfahrungen aufmerksam zu machen und sie zum Mitschwingen zu bringen. Wie es auch sein mag, meine Absicht bei meiner Falldarstellung ist es nicht, die Leser kognitiv verstehen zu lassen.
Es geht einfach darum, das von mir Erlebte als Liebessituation bei einer Beratung zum Ausdruck zu bringen, in der Hoffnung (nicht Erwartung), dass andere Menschen, Kunden oder Coaches, ähnliche Erlebnisse bei sich feststellen können. Vielleicht, damit sie bei zukünftigen Lebenssituationen auf die innere Dimension (innere Verbundenheit) des Miteinanders aufmerksam werden, auch innerlich berührt werden und dabei als Echo so etwas wie Gänsehaut, ein Schütteln, eine Seins-Fühlung (körperliche Hautreaktion auf ein inneres Erlebnis, wie es Graf Dürckheim benennt) empfinden.
Über die Liebe ist viel geschrieben worden. Sie wurde von Dichtern, Romanautoren, Therapeuten, in Filmen, Theaterstücken, Liedern usw. in der Geschichte der Menschheit immer wieder dargestellt. Sie wird in all den Kunstformen weiterhin besungen und gefeiert. Für meine Arbeit als Pädagoge, Therapeut, Coach und Supervisor und auch als Ausbilder dieser sozialen Berufe halte ich beim Behandeln des Themas Liebe die Erfüllung von drei Bedingungen für unentbehrlich, mit denen Liebe unter Menschen möglich ist:
• Gegenseitige Zuwendung und Annahme
• Freiheit: Liebe lässt sich nicht erzwingen
• Gegenseitige Anerkennung und Wertschätzung
Das heißt, wir können bei einer Beratungssituation keine Liebe herstellen, als ob es sich um eine Sache, um ein Objekt handeln würde. Sie ist kein Ergebnis bzw. keine Folge irgendeiner Ursache. Wir können nicht behaupten, hier und dort würde Liebe entstehen, wenn wir dieses oder jenes tun. Nein, wir schaffen keine Liebe, wir können höchstens die Bedingungen schaffen, unter denen Liebe entstehen kann. Wenn das geschieht, dann werden wir, ohne es zu wollen und ohne es verhindern zu können, selbst überrascht, ergriffen, mitgerissen, berührt.
Fallbeschreibung
Johanna ist eine Frau, Gattin, Mutter, Berufstätige. Sie arbeitet im sozialen Bereich in einer mittelgroßen Stadt im Osten Spaniens. Sie ist seit mehreren Monaten wegen Traurigkeit, Müdigkeit, Stress und Lustlosigkeit krankgeschrieben, alles Anzeichen einer Burnout-Situation. Trotz Medikamenteneinnahme, psychiatrischer Behandlung und Ruhe zeichnet sich bei ihr keine Besserung ab.
Sie kannte mich aus einer Team-Supervision-Veranstaltung und bat mich um Hilfe. Ich nahm die Anfrage gern an. Wir vereinbarten fünf bis sechs Sitzungen von jeweils einer Stunde, um daran zu arbeiten. Nach zwei Sitzungen im direkten Gespräch setzten wir unsere Coachingarbeit per Skype fort. Wir sind dabei ihre ganze Situation im Einzelnen durchgegangen: Schwierigkeiten in der Berufsausübung, verschleppte Probleme mit ihrer Herkunftsfamilie, Auseinandersetzungen in ihrer jetzigen Familie, die Sorge um ihren kranken Mann und um die zwei erwachsenen Kinder. In der vierten Sitzung sprach sie über ihren besseren psychischen Zustand und bewertete unsere Sitzungen positiv. Sie schien damit zufrieden zu sein und erwähnte einen Artikel, den sie gelesen hatte und der ihr sehr geholfen hätte. Ich bat sie, mir zu erzählen, was an dem Artikel sie so berührt habe. Sie sagte: »Die vier Prinzipien des Wohlergehens, die vier Vereinbarungen mit sich selber. Es stand in einer Zeitschrift (Integral Nr. 71 5), und es hat mir gutgetan, diese vier Prinzipien auf meine aktuelle Situation anzuwenden. Ich brauche diese vier Vereinbarungen mit mir selbst wirklich und habe darüber nachgedacht.«
Ich antwortete: »Dann erzähle mir bitte, worum es bei diesen Vereinbarungen geht und was du dabei gedacht bzw. gefühlt hast.«
Sie nannte mir die vier Vereinbarungen der Tolteken: 6
»1. Sei tadellos in der Sprache!
2. Nimm nichts persönlich!
3. Ziehe keine voreiligen Schlüsse!
4. Gib dein Bestmögliches!«
Ich fragte sie, woran oder an wen sie dabei dachte und was es für sie hieß. Sie begann zu erzählen, dass sie eine Tendenz dazu habe, immer wieder negativ zu denken, sich bei jeder Gelegenheit die schlimmsten Sachen auszumalen, wie sie sich zurechtspinnen würde, was alles passieren könne. Auf meine Frage, wann oder bei wem sie sich schlimmste Szenarien ausmalen würde, gab sie ziemlich unvermittelt ihre Arbeitsstelle und ihren Sohn an. Bei ihrem Sohn bedrücke es sie besonders. Sie hatte in den Sitzungen davor schon erzählt, wie schlimm es um ihren Sohn bestellt sei. Er hätte keinen richtigen Beruf und keinen richtigen Job. Er arbeite nur ab und zu, verdiene sich etwas Geld, und dann ginge er auf Reisen und sei auf und davon. Er schien dabei glücklich zu sein, doch sie mache sich große Sorgen um ihn. »Was wird aus ihm werden? Wir, mein Mann und ich, haben uns unsere Existenz mühsam unter schlimmeren Umständen aufgebaut … Er hat zwar eine tolle Frau, die auch einen Beruf und eine anständige Arbeitsstelle hat, doch er kann und soll seine Existenz nicht auf ihrem Rücken errichten.«
Johanna erzählte bei dieser Sitzung wiederholt die Geschichte von ihrem Sohn, und es zeigte sich, dass sie ihn einerseits mit ihren Sorgen verurteilte, wegen der Dinge, die er tat bzw. nicht tat, andererseits stellte sie fest, wie glücklich er zu sein schien. Das konnte sie (kognitiv) akzeptieren (er hat eine tolle Frau und sie führen ein glückliches gemeinsames Leben), doch emotional konnte sie es nicht gutheißen.
Die Beziehungen zueinander (Mutter-Sohn, Vater-Mutter-Sohn) wären sehr widersprüchlich deswegen, und sie leide sehr darunter. Das Ganze belaste sie massiv, und wenn sie an die Zukunft der beiden denke, male sie sich die schlimmsten Situationen für beide (den Sohn und seine Frau) aus: »Wenn er nicht bald eine Ausbildung macht oder sie ihn nicht dazu zwingt, eine vernünftige Arbeit zu finden …«
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