Seit dem ausgehenden 12. Jahrhundert finden die ersten theophorischen Prozessionen statt, bei denen das Viaticum feierlich und mit Geleit zu den Kranken getragen wird 23. Mit der Entstehung und offiziellen Einführung des Fronleichnamsfestes erhält die eucharistische Verehrung entscheidende Impulse und der Aufbewahrungsgrund auch zum Zwecke der Anbetung wird zunehmend selbstverständlich. Während sich das Fest zunächst nur von einzelnen Kirchen aus über ganze Städte (vor allem in Deutschland) und Bistümer ausbreitet, erfährt es nach der Aufnahme der Bulle Urbans IV. in die klementinische Gesetzessammlung durch Johannes XXII. im Jahre 1317 in ganz Europa Verbreitung 24und fördert enorm die eucharistische Frömmigkeit. Gleichzeitig mit dem Fronleichnamsfest entwickelt sich nun auch der Brauch, die Hostie in einem Schaugefäß ausgesetzt auf dem Altar stehen zu lassen. Zunächst geschieht dies nur in der Messe und innerhalb der Fronleichnamsoktav, doch kommt es schnell zu dem Brauch, auch darüber hinaus die heilige Eucharistie auszusetzen, was ein bedeutendes Indiz zur Verselbstständigung dieses Kultes ist 25. Kritik an diesen Praktiken führte zwar mancherorts zu Reduzierungen der Aussetzungen, vor allem außerhalb der Messe und außerhalb der Fronleichnamsoktav, aber eindämmen ließen sie sich nicht mehr; die Volksfrömmigkeit und ihr Schauverlangen blieb stärker 26. Das Vierzigstündige Gebet – zunächst als Grabwache gedacht – entwickelt sich schließlich zu einem Gebet vor dem Allerheiligsten 27. Die Verehrung der Eucharistie wird von nun an ein zusätzlicher Aufbewahrungsgrund. Schon 1220 bestimmt das Konzil von Durham, dass während eines Versehgangs zumindest eine Hostie in der Kirche zurückbleiben muss, was später mit der Gewährleistung einer Möglichkeit der Anbetung begründet wird 28. Als weitere sichtbare Zeichen für einen eigenen Kult der Anbetung nennt Nußbaum die Tatsache, dass es nun vielerorts zwei Aufbewahrungsgefäße gibt – eines für das Viaticum, eines für die Anbetung – und den Brauch, am Aufbewahrungsort ein ewiges Licht zu entzünden 29. Kurz: Eucharistische Anbetung in der uns heute noch vertrauten Gestalt ist geboren. Es war wohl ein Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren 30, die zu dieser besonderen Form eucharistischer Frömmigkeit führten, und es tritt in den Untersuchungen Browes und Nußbaums deutlich zu Tage, dass es sich bei ihrer Entstehung nicht um eine von oben indoktrinierte, systematisch angeleitete Frömmigkeitsform handelt, sondern um eine konkrete, lokal statthabende Praxis, die sich sowohl aus dem Volk sowie aus Priester- und Gelehrtenkreisen herausbildete.
Vordergründig könnte man meinen, die konsekrierten eucharistischen Gaben seien zum Konsum durch die Gläubigen bestimmt und würden ihres inneren Sinnes entleert, wenn sie – in Schaugefäßen ausgestellt – zu Objekten verdinglicht statt gegessen bzw. getrunken würden. Hans Urs von Balthasar legt dem „zeitgenössischen Kritiker“ die Worte in den Mund: „Welchen Sinn soll es denn haben, stundenlang vor einem Stück Brot – wie immer transsubstantiiert es sein mag – zu knien und ‚anzubeten’ […] Brot ist zum Essen da, nicht zum Anschauen oder Andenken, und die Gegenwart Christi ist durch Kirchenmauern ebenso wenig eingeschränkt wie durch Tabernakel oder Monstranz. Weder kann man sich Jesus im Abendmahlssaal vorstellen, der das Stück Brot den Jüngern zur Verehrung statt zum Essen hinhalten würde, noch sich ausdenken, wie ihm zumute sein mag als Ausstellungsgegenstand auf Altären der Kirche. Man sieht deutlich, wo die Dinge – wenn auch sehr allmählich, durch Jahrhunderte – auf die schiefe Bahn geraten sind, vom Pneumatischen weg immer mehr ans Materielle heran: das Ereignis wurde statisch, der Vorgang wurde Zustand, das unfasslich sich Darbietende zum fasslich Dargebotenen, das Unanschauliche zum Gesehenen, die göttliche zu einer irdischen Nähe“ 31.
Aber, so wendet Balthasar ein, „vielleicht ist es für einen, der etwas tiefer nachdenkt, gar nicht auf so einfache Formeln zu bringen. […] Eucharistie heißt: Der Herr kommt, das ist sein Akt; aber dem folgt kein Akt des Fortgehens. […] Die Eucharistiefeier ist ein wahres Ereignis, gleichsam ein Einbruch der Ewigkeit in die Zeit; aber dem folgt kein Rückzug der Ewigkeit aus der Zeit. […] Die Unterscheidung zwischen Zustand und Ereignis fällt dahin: das ewige Ereignis der dreieinigen Liebe Gottes, das zugleich sein ewiger Zustand ist, hat sich in einem unverwechselbaren einmaligen geschichtlichen Ereignis im Menschwerden, Leben und Sterben-Auferstehen Jesu Christi der Welt offenbart“ 32.
Der in der Materie einer unscheinbaren Hostie verdichtete Glaube an die Inkarnation Gottes hat de facto zu einer auf Erfahrung gegründeten Theologie des Konkreten und nicht zuletzt zu der Bereitschaft geführt, Christentum als Praxis der herabsteigenden, fußwaschenden, gekreuzigten Liebe zu verstehen. Diese Mystik des eucharistischen Sakramentes bestätigt den unauflöslichen Zusammenhang von Liturgie und Diakonie, der – wie zu zeigen sein wird – in der eucharistischen Anbetung das Moment einer Unbedingtheit erfährt. Denn es geht in der eucharistischen Anbetung nicht um eine privatistische Abkehr von der Welt (wenngleich die Gefahr einer solchen natürlich immer gegeben ist), sondern um die Begegnung mit dem Christus, der den Liebesdienst an seinem Nächsten radikal gelebt hat 33.
Zunächst gilt für die eucharistische Anbetung die gleiche Charakterisierung wie für die Anbetung im Allgemeinen. Dass Gebet mehr ist als die ihm üblicherweise innewohnende Zweckmäßigkeit, wird besonders in der Anbetung deutlich. Anbetung in ihren verschiedenen Ausdrucksformen und Kulten entbehrt vor allem jedweder funktionalistischen Intention. So legitim Funktionen wie Bitte und Dank für eine religiöse Existenz sein mögen, letztendlich begegnet dem Christen im Evangelium ein Gott, der sich nicht darin erschöpft, was er für ihn in dieser oder jener Situation bedeutet. Die Erkenntnis, dass Gott diese Größe bei weitem übersteigt, lässt am Ende nur die schweigende Anbetung übrig. Sie ist der Sprachlosigkeit angesichts der alles überragenden Größe Gottes angemessen und verwandelt sie in einen bestimmbaren Akt, in einen Akt der Anerkennung und des Lobpreises 34: Akt im Sinne einer Haltung, die sich ganz der Allmacht Gottes übereignet und so die eigene, endliche Geschöpflichkeit realisiert. Eine solche Haltung erscheint dem modernen, funktional denkenden Menschen heute schwierig und befremdlich. Denn wenn es bei der Anbetung einzig um die Begegnung mit Gott geht, verzichtet sie auf den Gewinn oder die Befriedigung spiritueller Erfahrungen und Bedürfnisse.
Die kritischen Einwände liegen auf der Hand: es handle sich bei der eucharistischen Anbetung um eine isolierte Frömmigkeitsübung, die, den Leib Christi verobjektivierend, sich zu sehr auf den Einzelmenschen und sein persönliches Heil beziehe. Sie dränge sowohl die Gemeinschaft als auch den eschatologischen Charakter des Christentums in den Hintergrund und fördere magische Deutungshorizonte des Glaubens. Sicherlich sind diese Sorgen nicht völlig von der Hand zu weisen, dennoch scheinen sie unbegründet, solange es in der Anbetung um eine Begegnung mit dem sich offenbarenden Christus geht; genauer: dem Christus, der sich uns in der heiligen Eucharistie als Speise schenkt. Die Beziehung der eucharistischen Anbetung auf die Kommunion ist also vorausgesetzt, ein Grundprinzip sozusagen 35. Karl Rahner merkt dazu an: „Er gibt also in Wahrheit sich als Ganzen zur Speise. Und darum ist die Anbetung hier durchaus legitim, weil man nicht einer wirklich «sachhaft» zu verstehenden Speise begegnet, sondern IHM selbst“ 36. Die konsekrierte Hostie wird – so Rahner – nicht angebetet, weil Jesus Christus in ihr gegenwärtig ist. Auf gewisse Weise ist er ja in der ganzen Schöpfung gegenwärtig. Sondern sie wird angebetet, weil in ihr Jesus Christus gegenwärtig ist „als der sich uns zur Speise Anbietende“ 37: Das heißt als derjenige, der mit uns einen Bund eingehen will, Gemeinschaft stiften will und sich uns, um des Heiles willen, durch die Kommunion zueignen will. Dieses Angebot Christi birgt also ein qualitatives Mehr als seine bloße Gegenwart und insofern ist eucharistische Anbetung nicht bloßes Stehen vor den eucharistischen Gaben, sondern „subjektive Fortsetzung der Messe und Anheben der (künftigen) Kommunion“ 38. Es geht also um einen Prozess, ein In-Gang-setzen eines Beziehungsgeschehens zwischen Mensch und Gott.
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