Die Wüste wird für Foucauld der vorrangige Ort des vertrauten Umgangs mit Gott 114. In ihrer geologischen Kargheit lenkt sie den Blick des Herzens auf den eucharistischen Christus und die in ihr lebenden Menschen. Sie erhält als Ort eine Symbolgestalt 115. Masse und Anonymität existieren hier nicht und dem einzelnen Antlitz kann nicht aus dem Weg gegangen werden. Dadurch wird sowohl die Not als auch die Freundschaft des Mitmenschen zu einer Begegnung mit Christus.
Das Tun des Bruders Karl, die Offenheit für die Einheimischen und die Soldaten, ergibt sich notwendigerweise aus der Gegenwart des Allerheiligsten: Die Liebe Jesu gilt allen Menschen, und Foucauld macht sich zu ihrem Verkünder. Durch einfaches, stilles Apostolat will er die Frohe Botschaft verkünden und zwar denen, die am verlassensten sind und die am weitesten von Jesus entfernt sind. Deren räumliche Entfernung von Christus bricht er ganz konkret durch das Hineintragen der Gegenwart Jesu im eucharistischen Brot in das Gebiet der Wüste. Ihre innerliche Entfernung versucht er sekundär – auch durch sein eigenes Beispiel – zu brechen, indem er sich den Menschen aussetzt wie Christus in der Monstranz sich der Welt aussetzt. Dementsprechend versteht Foucauld seine eigene sowie die göttliche Sendung der Kirche; und in seinem priesterlichen Dasein will er für die Menschen der Sahara ganz zur Kirche werden, indem er sich in der radikalen Nachahmung Jesu zu dessen Werkzeug des Heils macht 116. Ebendiesen Gedanken legt er auch der Existenz seiner Gemeinschaft der Kleinen Brüder (und auch Schwestern ) vom heiligsten Herzen Jesu zugrunde. Sie sollen dorthin gehen, wo niemand etwas von Jesus weiß, das Allerheiligste dorthin tragen und dessen Heiligkeit durch unablässige Anbetung sichtbar machen 117. In diesem Sinne will er Kirche da sein lassen , will er missionieren, nicht anhand zu zählender Taufen, sondern als Gegenwärtig-machen der Liebe Christi.
1.2.3.2 Nächstenliebe: Inklusion in die Selbstverschenkung des eucharistischen Christus
Schon unmittelbar nach seiner Bekehrung hatte Charles de Foucauld das biblische Wort von der Selbstidentifikation Jesu mit dem Geringsten seiner Brüder zum Mittelpunkt seiner ganzen Existenz und schließlich auch seiner Ordensgründung gemacht. So bestand Foucaulds innigstes Bestreben ausschließlich darin, sich in allem dem in Jesus von Nazareth inkarnierten Gottessohn gleich zu machen und selbst zum Geringsten zu werden. Dieser Entschluss beruhte vor allem in der eucharistischen Frömmigkeit Foucaulds und in der Erfahrung, dass ihm in der Heiligen Eucharistie der erniedrigte und sich klein-machende Jesus begegnet. Unscheinbar wie ein alltägliches Stück Brot geht die Liebe Gottes verborgene Wege: „Wenn man jemand liebt, ist man tatsächlich sehr wirklich in ihm, man ist in ihm durch die Liebe, man lebt in ihm durch die Liebe, man lebt nicht mehr in sich, denn man hängt nicht mehr am eigenen «Ich», man ist von sich losgelöst, außer sich; man lebt nicht mehr in sich selbst, man ist in dem, den man liebt, man lebt von seinem Leben, lebt in ihm“ 118.
In der nordafrikanischen Wüste wird Charles mehr und mehr die Unerlässlichkeit bewusst, sich für die Anderen zum Geschenk dieser Liebe zu machen. Das eigene Ich soll so sehr in den Hintergrund treten, die Gleichheit mit Jesus Christus soll so vollkommen sein, dass in der Person des Charles de Foucauld nur mehr die Liebe Jesu sichtbar wird. Das Fundament dieser Spiritualität ist Foucaulds Glaube an die reale Gegenwart Jesu in der Eucharistie. In der Anbetung, dem ganz Bei-Gott-sein, tritt alles andere derart zurück, dass die einzig angemessene Art, sich zu dieser Nähe in Beziehung zu setzen, diejenige ist, sich selbst liebend zu schenken. Anbetung wird somit neben dem Erkennen des liebenden Wesens Gottes zu einem Akt der tätigen Liebe. Charles de Foucauld spricht von seiner Verähnlichung mit dem Geliebten 119. Wenn man Jesus unendlich liebt, kann man gar nichts anderes wollen, außer es dem Geliebten gleich zu tun, sich selbst und sein eigenes egoistisches Wollen zu vergessen und zu verleugnen, um in sich nichts als die Fülle und Liebe des Geliebten zu tragen. Es gilt, Christus mit seiner ganzen Existenz in allen Momenten des Lebens nachzufolgen: „Das vollkommene Leben besteht darin, Christus innerlich und äußerlich nachzufolgen; innerlich, indem wir unsre Seele der Seinen ähnlich werden lassen, äußerlich, indem wir eine der drei Arten von Leben führen, die er uns als Beispiel gegeben hat“ 120. Die Gleichförmigkeit umfasst also jedes Denken und Tun. Indem Foucauld sich selbst ganz und gar aufgibt und in den Gott eingestaltet, der sich ihm in der Eucharistie aussetzt, kann er die liebevolle Beziehung Gottes zu seiner Schöpfung verleiblichen, kann er – wie die Kirche – Werkzeug Gottes werden.
Charles de Foucaulds Nachfolge Jesu in Armut und Gehorsam macht in allen Momenten seines Lebens konkret und sichtbar, was in der Anbetung für ihn Wirklichkeit ist: das Hineinversenken in die Liebe Gottes. Auf diese Weise eignet er sich das „klein, immer kleiner“ an; indem er im eucharistischen Brot das kleine, verborgene Dasein Jesu schaut.
In der Wüste wird das kontemplative Leben Charles de Foucaulds immer öfter unterbrochen von tätiger Nächstenliebe. Die Verborgenheit des Nazareth-Ideals tritt zunehmend in den Hintergrund, denn als christlicher Marabut 121gehört ihm die Aufmerksamkeit der Wüstenbewohner. Zwar verbringt Charles de Foucauld, wann immer möglich, viele Stunden vor dem Allerheiligsten, aber meistens wird er von den Menschen um ihn herum gefordert und beansprucht. Keinen von ihnen will er abweisen. Wie vorhergehend schon erwähnt, erkennt Foucauld angesichts der eucharistischen Wirklichkeit Jesu Christi die Notwendigkeit, die zuteil gewordene Liebe nicht für sich selbst zu behalten, sondern an die Menschen weiterzugeben. Bestimmte, einschneidende Erlebnisse erscheinen Foucauld wie Sinnoffenbarungen 122, und viele seiner Aufzeichnungen geben Zeugnis von seinen Erfahrungen, in denen ihm der konkrete Mitmensch als der Anspruch des in der Monstranz ausgesetzten Christus begegnet.
Vor dem Allerheiligsten kniend offenbart sich ihm der Jesus, der sein Leben am Kreuz hingegeben hat für die Vielen, für das Heil eines jeden Menschen. Weil er sich in die Lebenshingabe Jesu für die Vielen versenkt, drängt es Foucauld in die Nachfolge radikaler Proexistenz 123. Er will sich mit Jesus zur Hostie gestalten lassen für die Menschen, die sich bei ihm einfinden 124. Der Nächste begegnet Foucauld somit als der ganz Andere, als ein von Gott Gerufener und Gewollter und dadurch als unhintergehbarer Anspruch. Wenn Gott das Heil eines jeden Menschen will und er sich in der heiligen Eucharistie einem jeden Menschen schenkt, wie sehr steht man dann in der Pflicht, dem Nächsten zu eben diesem Heil zu verhelfen? 125Wie wichtig ist es dann, den Menschen die Eucharistie zu bringen und ihnen durch das eigene Leben und das gütige Handeln an ihnen die Liebe Gottes zu erkennen zu geben? Foucauld erkennt im Nächsten eine Gegenwärtigkeit Christi wie in der Hostie selbst. Von nun an verbringt er die Stunden vor dem eucharistischen Brot vor allem, um nicht mehr nur sich, sondern stellvertretend auch die Menschen seiner Umgebung vor Gott hinzutragen. Der Akt der Liebe innerhalb der Anbetung verbleibt nicht mehr nur zwischen dem Du Gottes und dem Ich des Anbetenden: das Geschehen der Liebe dringt nach außen, lässt die Menschen daran teilhaben, indem Foucauld sich ihnen bis zum Letzten zuwendet und sie hineinnimmt in eine Beziehung zum eucharistischen Christus: „So weit sollen wir alle Menschen lieben, daß wir durch die Liebe in ihnen leben und nicht in uns, daß wir eins sind mit ihnen durch die Liebe, nicht um ihretwillen, sondern um Gottes willen, «daß sie eins seien in Uns», daß unsere Liebe zu Gott uns so sehr mit allen Menschen verbinde“ 126.
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