Philipp Spahn
Missbrauchter Gott?
Religion im Spannungsfeld
von Politik und Gesellschaft
Philipp Spahn
Missbrauchter Gott?
Religion im Spannungsfeld von
Politik und Gesellschaft
echter
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹ http://dnb.d-nb.de› abrufbar.
1. Auflage 2019
© 2019 Echter Verlag GmbH, Würzburg
Umschlag: Vogelsang Design, Jens Vogelsang, Aachen
(Umschlagbild: gettyimages)
Satz: Crossmediabureau
E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de
E-Book ISBN 978-3-429-06418-1
Inhalt
Vorwort
Hinführung: Identität
I. Gesellschaft
Die Globalisierung des religiösen Marktes
• Kirche und Politik: Eine zu innige Liebe?
• Die Debatte um Debatten
• Für eine neue Kultur des Streitens
II. Politik
Politik braucht Religion … • … und missbraucht sie • Streitfall: Identitätspolitik
III. Kirche
Das Christentum: Eine Botschaft für die Welt • Das Christentum: Doch keine Botschaft für die Welt? • Kirchliche Verkündigung zwischen Gesinnung und Verantwortung • Mündige Laien: Eine Provokation für den Klerus? • Die Kirche: Anwältin des natürlichen Rechts • Politischem Missbrauch des Christentums nicht Tür und Tor öffnen • Die Fundamente des Glaubens gießen • Das päpstliche Lehramt: Ein Geschenk? • Das kirchliche Lehrgebäude: Ein wirksamer Schutz vor Missbrauch • Theologisches Kauderwelsch oder notwendige sprachliche Komplexität?
Ausblick: Unverfügbarer Gott?
Vorwort
In den gesellschaftlichen und politischen Streitigkeiten während und nach der Flüchtlingskrise wirkte es oft, als bestünde zwischen christlichem Abendland und christlicher Nächstenliebe ein unüberbrückbarer Gegensatz – dabei ist beides doch untrennbar miteinander verbunden. Während aber die einen Ersteres retten wollten, versuchten die anderen, Letzteres zu leben.
Natürlich ist nicht nur in der Flüchtlingsfrage das Christentum als normativer Bezugspunkt unterschiedlicher politischer Weltanschauungen präsent. Es gibt kaum eine gesellschaftliche und politische Debatte, die heutzutage ohne einen Rückgriff auf ‚Christliches‘ auskommt. Die einst totgeglaubte Religion ist quicklebendig, und das trotz schwindender Mitgliederzahlen. Inwieweit es aber redlich ist, dass in außerkirchlichen Auseinandersetzungen ‚christlich‘ zu einem Attribut politischer Anschauungen wird, ist eine alte Frage, die sich nicht pauschal beantworten lässt.
Unbestreitbar ist, dass der Inhalt des Wortes ‚Christliches‘ gegenwärtig nicht fest umrissen ist, im Gegenteil. Mitunter werden gegensätzliche politische Positionen vertreten und gleichsam als ‚christlich‘ etikettiert. Deutlich ist das besonders, seitdem Rechtspopulisten die bundesrepublikanische Gesellschaft aufmischen, wie das Beispiel vom christlichen Abendland, das scheinbar in Gegensatz zur christlichen Nächstenliebe geraten ist, zeigt. Den Fragen, ob es christliche Inhalte in politischen Parteien geben darf, was eine christliche Position auszeichnet und wann es sich um einen Etikettenschwindel handelt, haben die Veränderungen in der deutschen Parteienlandschaft jedenfalls neue Brisanz verliehen.
Auch an den Kirchen gehen diese Entwicklungen nicht spurlos vorüber. Zwar haben die Kirchen kein Deutungsmonopol auf das Christentum. Ihre amtlichen Vertreter sehen sich aber doch immer wieder dazu gezwungen, mit Wortmeldungen in diese politischen Debatten einzugreifen, auch wenn die Ansichten darüber, ob das die Aufgabe der Kirchen ist, auseinandergehen. Die ‚Arbeitshilfe zum kirchlichen Umgang mit rechtspopulistischen Tendenzen‘ mit dem Titel ‚Dem Populismus widerstehen‘, die im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz erarbeitet und am 25. Juni 2019 vorgestellt wurde, ist ebenfalls im Licht der geschilderten Zusammenhänge zu sehen. Leider konnte die Arbeitshilfe selbst im Folgenden nicht mehr berücksichtigt werden.
In Bausch und Bogen beantworten lassen sich die aufgeworfenen Fragen nicht, und das nicht zuletzt deshalb, weil etwaige Antworten sich mit wandelnden gesellschaftlichen und politischen Kontexten ändern können. Um mehr als einen Konsens der widerstreitenden Ansichten kann es sich dabei ohnehin nicht handeln. Damit sind Antworten auf die gestellten Fragen aber notwendig Teil eines fortwährenden Ringens, zu dem der vorliegende Band einen bescheidenen Beitrag zu leisten versucht. Es handelt sich dabei nicht um eine erschöpfende Abhandlung des Themas, sondern um eine schlaglichtartige Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Umstände in Gesellschaft, Politik und Kirche. Der Band versteht sich als Debattenbeitrag und darf auch nur als solcher gelesen werden. Dass in diesem zwar versucht wurde, beide großen Kirchen zu betrachten, am Ende aber doch ein gewisses Ungleichgewicht zugunsten der katholischen Kirche festgestellt werden muss, soll durch die biografische Prägung des Verfassers versucht werden, zu entschuldigen.
In einem anderen Kontext hatte ich mich im Juli 2018 mit den eben aufgeworfenen und weiteren Fragen beschäftigt ( www.feinschwarz.net/missbrauchter-gott, Abruf 15. Juni 2019). Daraufhin trat der Echter Verlag mit dem Wunsch an mich heran, das dort abgehandelte Thema in den Kontext der satirischen Broschüre ‚Christliches in der AfD‘ und des Sammelbands ‚Christliches in den Parteien‘ zu stellen, ohne aber eine Fortsetzung zu schreiben. Diesem Wunsch habe ich gerne versucht, nachzukommen.
Frankfurt am Main, im Juni 2019
Hinführung: Identität
Die von Max Weber prognostizierte „Entzauberung der Welt“ ist ausgeblieben. Aufgeschoben oder aufgehoben, wer weiß das schon. Prognosen sind schwierig, bekanntlich besonders dann, wenn sie die Zukunft betreffen. Zumindest vorerst zieht uns, wie der Soziologe Hans Joas meint, die „Macht des Heiligen“ in ihren Bann. Religiosität ist wieder im Aufwind, und das sicher nicht erst seit gestern, nur eben anders als gestern.
In Europa paart sich religiöser Pluralismus mit scheinbar individuellen Lebensentwürfen, der Maxime einer modernen und aufgeklärten Gesellschaft schlechthin. Das Ergebnis sind spirituelle Sinndeutungen, bei denen der Einzelne sich selbst zum Maßstab erklärt, keineswegs aber gemeinschaftliche religiöse Lehren und auf keinen Fall gar unumstößliche Dogmen. Längst haben sich dabei esoterische Praktiken, magische Rituale und vieles mehr mit christlichen Elementen vermischt. Wir befinden uns mittendrin in einem spirituellen Karneval und die Kirchen feiern kräftig mit, jedenfalls unter Vorbehalt, folgt auf die bunten Tage doch stets die Tristesse des Aschermittwochs. Individualität ist der Maßstab, nach dem sich diese neue Lehre richtet. Ihr Credo wünscht von allem ein bisschen, vielleicht auch das Beste von allem, zumindest aber jedem das Seine.
Daraus resultiert eine mittlerweile nicht mehr ganz so „neue Unübersichtlichkeit“ (Jürgen Habermas), die aber nicht nur Konfetti und Kamelle auf ihre Jünger regnen lässt. Das Maß an religiöser und individueller Freiheit befremdet zugleich, provoziert Abwehrhaltungen und Gegenbewegungen. Besonders Zuwanderer aus dezidiert islamischen Staaten können mit einem religiösen Laissezfaire oft nur wenig anfangen.
In den letzten Jahren und Jahrzehnten warf dieser Gegensatz einen disparaten Schatten. Einerseits scheint Religion die Welt zu verzaubern. Während mit dem Maß an individueller Freiheit unausweichlich auch die eigene Unsicherheit wächst, ist Religion der rettende Anker im Hafen der Weltentwürfe. Denn Religion vermag zu leisten, was Politik nicht kann: Antworten, mitunter auch unfertige, auf die Fragen zu geben, mittels derer der Künstler Paul Gauguin die gesamte Krisis menschlicher Existenz einfing: ‚Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir?‘ Diesen auszuweichen auf Lebenszeit, das ist schlicht und einfach unmöglich. Die Welt bleibt verzaubert, weil irdische Existenz ohne transzendente Referenz an der Welt zerbricht.
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