Ein Machtmotiv ist ein zeitlich stabiles und über verschiedene Situationen konsistentes Bedürfnis, machtbezogene Ziele anzustreben und Situationen aufzusuchen, die dies ermöglichen. Unterscheiden lassen sich sozialisierte Machtmotive, die dank gegebener Inhibitionstendenz zu gebremstem, eingehegtem, sozial verträglichem Machthandeln führen, und sogenannte personalisierte Machtmotive, aus denen ungehemmtes und darum sozial wenig verträgliches Machthandeln resultiert. 15
Unterscheiden lassen sich auch verschiedene Ressourcen, Machtquellen, Machtmittel :
die Sanktionsmacht, die einer Zielperson die Belohnung oder die Bestrafung ihres Verhaltens in Aussicht stellt, sofern die Einfluss nehmende Person dieses kontrollieren kann, etwa in geschlossenen Systemen;
die informationale Macht derer, die überzeugende Argumente vorbringen, aber auch entscheiden, welche Informationen fließen;
die Expert*innenmacht , die der spezifischen Sachkenntnis (Expertise) einer Person zugeschrieben wird;
die Vorbildmacht der Einfluss nehmenden Instanz, mit der sich eine Zielperson identifiziert, weil sie deren Eigenschaften für bewundernswert und deren Verhaltensweisen für nachahmenswürdig hält;
eine legitime Macht, die sich durch formale Sozialstrukturen rechtfertigt, in denen Leitungspersonen als Autoritäten gelten 16
Autorität kommt einer Person in einer Machtposition zu – dank eigener Kompetenz, dank überkommenen Ansehens, dank eigener Machtmittel. 17
Aus Machtbeziehungen Liebe und Anerkennung zu schöpfen, mag schon darum eine Weile gutgehen, weil zu ihren Charakteristika deren Verleugnung gehört, und zwar auf beiden Seiten: Denn machtvolles Auftreten verliert schließlich seine Kraft, wenn seine Legitimität infrage gestellt wird, und umgekehrt wirkt die Einsicht, des eigenen Einflusses beraubt und also ohnmächtig zu sein, kränkend.
Aber je mehr ich aus Machtbeziehungen Liebe und Anerkennung schöpfe, meine Machtmotive auslebe, meine Machtmittel einsetze und meine Autorität gegenüber anderen zur Geltung bringe, desto weniger Eigengewicht messe ich diesen ja von mir selbst domestizierten und depotenzierten anderen bei, desto weniger Eigengewicht auch der mir durch sie zuteilwerdenden Liebe und Anerkennung. Ich mag in solchen Beziehungen der Mächtigere bleiben, aber meine Strategie geht nicht auf. Ein Teufelskreis setzt ein, indem ich auf noch mehr Macht setze und mich die fortwährende Mangelerfahrung in sogenannte narzisstische Wut versetzt. So entwickelt diese psychosoziale Dynamik ihren suchtartigen Charakter. Zugleich erinnert diese Entwicklung an die griechische Mythologie: Der schöne Jüngling Narziss verschmäht die Liebe der Nymphe Echo und anderer Nymphen, auch die des Bewerbers Ameinias. Von Nemesis, der Göttin der Vergeltung, wird er deshalb mit unstillbarer Selbstliebe bestraft: Beim Trinken beugt er sich über eine Quelle und verliebt sich in sein eigenes Spiegelbild. An dieser Liebe leidet Narziss und verzehrt sich. Er stirbt an der Liebe zu sich selbst. In der Unterwelt spiegelt er sich noch in den Wassern des Styx, bis er schließlich in die nach ihm benannte Blume verwandelt wird. 18
Narzissmus als psychologisches Konstrukt äußert sich typischerweise in Selbstüberschätzung, Überempfindlichkeit gegen Kritik, Suche nach Bewunderung und dominantem Interaktionsverhalten. Zwar wirken narzisstisch motivierte Personen bei ersten Begegnungen oft attraktiv, langfristig aber egozentrisch und selbstverliebt. 19
Damit geht oft ein Empathiemangel einher 20Haben narzisstisch geprägte Persönlichkeiten von ihren Eltern und anderen wichtigen Bezugspersonen keine Empathie erfahren, sondern Gleichgültigkeit und Kälte? Hartnäckig hält sich die populäre Annahme eines unbewusst geringen Selbstwertgefühls, das durch prahlerisch inszenierte Grandiosität kompensiert werden will. Wer sich selbst und für sich selbst insgeheim nur schwarz sieht, greift nach der strahlend weißen Weste, um dafür Anerkennung zu finden und um alles Schwarze zugedeckt zu halten. Diese Konstellation kommt vor, aktuelle empirische Belege weisen jedoch in eine andere Richtung: 21Sie legen nahe, dass Eltern ihre Kinder im Übermaß gelobt und nie kritikfähig gemacht haben, sodass zwar ihr Verhalten auffällig erscheint, weil es keine Frustrationstoleranz erkennen lässt, nicht aber ihr Selbstwertgefühl. Die inzwischen Erwachsenen können sich nur nicht vorstellen, wie und warum die bisher immer präsente Versorgung mit Lob, Anerkennung und anderen Zuckerle, wie es in meiner Heimat heißt, plötzlich abbrechen sollte. In der Arbeit mit betroffenen Missbrauchstätern wurde mir sehr deutlich, wie machtvoll ihre unersättlichen Ansprüche auf ein Gegenüber wirken müssen, das halb wohlmeinend, halb kleinlaut die ständig drohende Gefahr der Unterzuckerung einer narzisstisch geprägten Person fürchtet, sich so ausbeuten und einen emotionalen Missbrauch geschehen lässt, der Beziehungen allein als Quelle der Bewunderung sucht. Der Mächtige verhungert zwar ohne seinen Lieferanten, hält ihn aber machtvoll in Bann – eine Doppelbindung, wie sie im Lehrbuch steht! Und ein auch hier gegebenes Schwarz-Weiß-Denken zeigt sich dann in der allzu schlichten Zweiteilung der Welt in Bewundernde und Unnütze.
Die narzisstisch markante Selbstidealisierung geht mit einer Selbstimmanenz einher, also der Unfähigkeit, sich jenseits der eigenen Person für andere, womöglich höhere Werte und Ideale begeistern zu lassen, und mit einer Fremdabwertung, die Kooperationen verhindert und den Mangel an Empathie und emotionaler Wärme nicht zwingend als fehlende Gabe , sondern vielmehr als fehlenden Willen aufscheinen lässt. 22
Die Auseinandersetzung mit narzisstischen Phänomenen will keinen Generalverdacht erheben, vermag aber zu sensibilisieren, um Spielarten eines spirituell geprägten Machtgefälles auf die Schliche zu kommen – und einem Missbrauch, der die Bitte »Dein Wille geschehe« untergräbt und insgeheim darauf setzt, dass »mein Wille geschehe«.
Und zeigt sich hinter den langjährig und im weltkirchlichen Maßstab gepflegten Vertuschungsstrategien nicht eine strukturelle Empathielosigkeit als pastorales Muster? 23
3. Kollusionen – ein Definitionsvorschlag
Mir liegt daran, geistlichen Missbrauch als spezifisches Beziehungsgeschehen zu umreißen. Dazu drängt sich mir der Begriff der Kollusion 24auf. Er stammt aus Psychoanalyse und Paartherapie, ist aber nicht mehr nur dort zu Hause. Als Kollusion gilt das Zusammenspiel von Partner*innen auf der Basis einander entsprechender Beziehungskonflikte. Dabei scheinen ihre jeweiligen Dispositionen wie Schlüssel und Schloss zusammenzupassen, die beiden fühlen sich wie füreinander bestimmt und finden in heimlichem – und zugleich unheimlichem – Einverständnis zueinander. Sie vermögen unreife Wünsche und übergroße Beziehungsängste unter Kontrolle zu halten, indem sie einander jenes Verhalten abverlangen, das zur Reduktion je eigener Beziehungsängste beiträgt, und somit füreinander Lösungsvarianten des Problems des jeweiligen Gegenübers bereitstellen: Wer sich etwa außergewöhnlich gern und intensiv umsorgen, verwöhnen und narzisstisch nähren lässt, passt zu einem Gegenüber, das gern in eine helfende Rolle schlüpft – und den eigenen ungelebten Narzissmus delegiert mit der Aussicht darauf, dass vom grandiosen Glanz des Gegenübers auch etwas auf ihn oder sie fällt.
Kollusionen vermitteln ein Gefühl exklusiver Nähe und Unentbehrlichkeit füreinander und versetzen manche Menschen überhaupt erst in die Lage, sich eine Liebesbeziehung zuzutrauen. Dieses Arrangement bleibt unter den dabei zusammenwirkenden Akteur*innen selbst weitgehend uneingestanden, es erscheint allenfalls Dritten fragwürdig, denen diese Beziehung aber häufig völlig verborgen bleibt.
Читать дальше