Spirituelle Selbstbestimmung ist der Titel der Lehrveranstaltung, die Doris Reisinger im Winter 2019/2020 an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen anbot. Sie hebt darauf ab, dass es in der Gottesbeziehung wie in jeder Beziehung um ein Miteinander geht, sodass Menschen trotz aller Asymmetrie ein Recht auf spirituelle Selbstbestimmung 3zukommt – sowohl in der Beziehung zu Gott als auch in der Beziehung zu einem Geistlichen Begleiter, der Missbrauch begeht, wenn er die spirituelle Autonomie der ihm Anvertrauten dadurch verletzt, dass er seine eigene Stimme mit der Stimme Gottes verwechselt.
Mit Klaus Mertes4 kann es aber auch die begleitete Person sein, die die Stimme des Begleiters für die Stimme Gottes hält – oder umgekehrt lässt sich an die biblische Geschichte von der Berufung Samuels (1 Sam 3,1–21) denken, der die Stimme Gottes mit derjenigen Elis verwechselt, bis dieser zu differenzieren weiß –, und in einer dritten Variante machen fatalerweise beide Menschen die Stimme des Begleiters unter der Hand zu derjenigen Gottes. Dabei geht es nicht allein um einen Verstoß gegen das Erste und das Zweite Gebot , sondern zugleich um ein Vergehen an einem Menschen.
Spirituelle Not entsteht schleichend, wenn ein Begleiter zunächst als der lange gesuchte aufmerksame Zuhörer erscheint, bevor sich in der vermeintlichen Stimme Gottes sein eigenes Wort vernehmen und als Manipulation aufdecken lässt. Wer spirituell zu verdursten droht, freut sich, wenn ihm oder ihr Wasser gereicht wird, ohne zu schmecken, dass es vergiftet ist. 5Die offenen Arme des Begleiters erweisen sich als Falle, wenn sie eigener Bedürftigkeit entspringen und darum auf die Spiritualität der Betroffenen toxisch wirken, sodass sich hier jene Palette an Beschädigungen auftut, wie sie auch zu sexuellem Missbrauch gehört. Denn nirgendwo auf Erden tritt Macht mit größerer Macht auf, als wenn sie mit himmlischen Insignien einhergeht.
Drei Formen geistlichen Missbrauchs lassen sich unterscheiden: spirituelle Vernachlässigung, Manipulation, Gewalt . 6Die Differenzierung ist keine trennscharfe, aber eine hilfreiche, weil sie verständlich macht, wie geschehen kann, was Dritten, im Nachhinein aber oft auch Betroffenen, unerklärlich erscheint. Wenn Kinder gelernt haben, wie sie sich selbst spirituelle Ressourcen erschließen können, sind sie vor geistlichem Missbrauch gut geschützt, aber wer keine spirituelle Selbstbestimmung ausbilden konnte, erweist sich als anfällig und wenig wehrhaft, vielleicht gar als empfänglich für endlich klare Orientierungen, ist dankbar für jede Frucht in der eigenen spirituellen Wüste, profitiert also vorläufig, ohne zunächst nur sachte ansetzende Manipulationen als solche identifizieren zu können: Da sind Ausstrahlung und Charisma eines Menschen, der intuitiv jene anwirbt, die seine Übergriffe unterwerfungsbereit tolerieren; da sind emotionale Inszenierungen mit einseitigen Informationen; da sind subtile Einschüchterungen und Drohungen, die Unsicherheiten, Zweifel und anfängliche Widerständigkeit delegitimieren.
Spirituelle Manipulation baut auf Vernachlässigung auf. Die Schutzmauern gegenüber dem Manipulator fallen, wenn sie je existierten. Die Mauern dagegen, die sich um diese Beziehung herum bilden, werden immer dicker und höher, sodass Dritte keinerlei Hilferuf vernehmen, soweit er überhaupt noch artikuliert werden kann. Auch spirituelle Gewalt, die nicht an sexuelle Gewalt gekoppelt ist, wirkt wie eine Vergewaltigung, wie ein Mord, gilt als Seelenmord und kann daher zum Suizid führen. Auffällig erscheint mir die Analogie, die sich zwischen spiritueller Vernachlässigung, Manipulation und Gewalt auf der einen Seite und sexueller Grenzverletzung, Übergriff und Gewalt 7andererseits auftut. Sexuelle Grenzverletzungen lassen sich nicht immer an einer Absicht festmachen, spirituelle Vernachlässigung auch nicht. Sexuelle Übergriffe dagegen erfolgen zielgerichtet, spirituelle Manipulation auch. Sexueller Missbrauch ist Gewalt, spiritueller Missbrauch auch.
Geistlicher Missbrauch wirkt nicht erst dann verheerend, wenn er in sexuellen Missbrauch mündet, auch wenn sich die Strukturen auf erschreckende Weise gleichen und Betroffene oft von beidem berichten. Emotionaler Missbrauch, auf den Katharina Kluitmann 8abhebt, ist hier wie dort gegeben. Loyalitäten, gemeinsames, womöglich elitäres Sendungsbewusstsein und Opferbereitschaft 9schweißen zusammen. Ihr Übriges tun mit emotionalem Missbrauch einhergehende Scham- und Schuldgefühle – gehegt unter dem Eindruck des Opfers, nicht zu genügen.
Auch die systemischen Bedingungen geistlichen Missbrauchs gleichen denen sexueller Gewalt: Geschlossene Systeme bilden etwa religiöse Gemeinschaften, 10wenn sie ihren Mitgliedern lediglich interne Begleitung anbieten und bei geistlichem Missbrauch unweigerlich Mitläufer*innen generieren, die vielleicht etwas merkten oder hätten merken müssen, sich damit aber an niemanden wenden können. Hier vermischen sich forum internum und forum externum – wenngleich vom Kirchenrecht unterschieden. 11Ein Beichtvater darf kirchenrechtlich außerhalb der Beichte nicht auf in der Beichte gewonnenes Wissen zurückgreifen, auch nicht gegenüber der beichtenden Person – aber was, wenn es in geschlossenen Systemen trotzdem geschieht?
Geistlichen Missbrauch als Verletzung spiritueller Selbstbestimmung zu fassen, verweist erneut auf das Verständnis von sexuellem Missbrauch: »Erst auf der Grundlage des Menschenrechts auf sexuelle Selbstbestimmung wird unmissverständlich deutlich, worin die besondere moralische Verwerflichkeit sexuellen Missbrauchs besteht.« 12Und die kirchliche Situation bleibt alarmierend: »Nach derzeitigem Kenntnisstand erlauben die vorhandenen empirischen Daten die Schlussfolgerung, dass die sexuellen Missbrauchsvorwürfe gegen katholische Priester von 2009 bis 2015 nicht rückläufig sind und die Quote angezeigter Priester im Vergleich zur männlichen Allgemeinbevölkerung etwa gleich hoch ist. Die Vorstellung, dass die besonderen moralischen Anforderungen an den Priesterberuf mit einer niedrigeren Quote an Strafanzeigen wegen sexuellen Missbrauchs an Kindern verbunden sind, lässt sich mit den vorhandenen empirischen Daten nicht bestätigen.« 13
Wenn ich mich etwa bei einem Unfall verletze, schlägt er dort eine Wunde, wo ich mir zuvor heil vorkam. Für geistlichen Missbrauch führt dieser Vergleich jedoch insofern in die Irre, als eine Verletzung spiritueller Selbstbestimmung meist nicht jene ereilt, die sich zuvor als spirituell selbstbestimmt und insofern gesund erlebten. Zumindest im Nachhinein erschließt sich Betroffenen oft eine unheilvolle Vorgeschichte, die an spirituelle Selbstbestimmung noch nie hatte denken lassen. Und auch die ebenso schlichte wie treffende Umschreibung von geistlichem Missbrauch als Verwechslung zweier Stimmen und Verstoß gegen die mosaischen Gebote bedarf der Einbettung in ein Beziehungsgeschehen, das von emotionalem Missbrauch geprägt ist, ohne dass dieser für geistlichen Missbrauch spezifisch wäre. Die vielfach geforderte theologische Aufarbeitung von Missbrauch hat mit den genannten und weiteren Kolleg*innen an Fahrt gewonnen, und sie muss weitergehen. Aber sie kann nur weitergehen, wenn sie sich auch für Erkenntnisse öffnet, die andere Disziplinen bereithalten.
2.2 Psychologische Beiträge
Als Menschen sind wir ein Leben lang auf andere Menschen angewiesen, auf deren Liebe, auf deren Anerkennung. Mit dieser Einsicht verbinden sich sowohl unsere beglückendsten als auch unsere schmerzlichsten Erfahrungen. Mancher Versuch, diese Abhängigkeit zumindest abzumildern, geht dahin, aus möglichst machtvoller Position heraus Liebe und Anerkennung zu gewinnen, zu erzwingen oder zu erkaufen.
Sozialpsychologisch versteht sich Macht oder power als asymmetrische Relation zwischen Machthaber und Beherrschten, also als Vermögen einer Instanz (Person, Gruppe, Institution), nach eigenen Vorstellungen auf andere Einfluss auszuüben – mit dem Ziel, deren Verhalten und Erleben zu kontrollieren und womöglich auch gegen Widerstände zu verändern. 14
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