Klaus Mertes - Widerspruch aus Loyalität

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Darf man seine Gruppe oder eine Institution oder die Autoritätsperson kritisieren? Und umgekehrt: Muss man nicht manchmal – gerade aus Loyalität – widersprechen? Was ist die rechte Loyalität? Wie kann ein Kritiker sich selbst prüfen, ob er im rechten Geist kritisiert? Wie soll der Kritisierte – demütig – mit Kritik umgehen? Was heißt, Kirche und Papst zu lieben? Wann muss man schweigen, wann reden? In einem höchst aktuellen Feld gibt Klaus Mertes Hilfen zur Unterscheidung der Geister.

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Klaus Mertes

Widerspruch aus Loyalität

Ignatianische ImpulseHerausgegeben von Stefan Kiechle SJ und Willi Lambert SJ, Band 39

Ignatianische Impulsegründen in der Spiritualität des Ignatius von Loyola. Diese wird heute von vielen Menschen neu entdeckt.

Ignatianische Impulsegreifen aktuelle und existentielle Fragen wie auch umstrittene Themen auf. Weltoffen und konkret, lebensnah und nach vorne gerichtet, gut lesbar und persönlich anregend sprechen sie suchende Menschen an und helfen ihnen, das alltägliche Leben spirituell zu deuten und zu gestalten.

Ignatianische Impulsewerden begleitet durch den Jesuitenorden, der von Ignatius gegründet wurde. Ihre Themen orientieren sich an dem, was Jesuiten heute als ihre Leitlinien gewählt haben: Christlicher Glaube – soziale Gerechtigkeit – interreligiöser Dialog – moderne Kultur.

Klaus Mertes

Widerspruch aus Loyalität

Widerspruch aus Loyalität - изображение 1

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über < http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

2. Auflage 2012

© 2009 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter-verlag.deUmschlag: Roberto Meraner Druck und Bindung: fgb · freiburger graphische betriebe ISBN 978-3-429-03172-5

Inhalt

Einführung

1. Anlauf: Loyalität und Kritik nach dem Evangelium

Zur Gruppe loyal sein

Vom Wert der Gruppenloyalität

Grenzen der Gruppe überschreiten

Autoritäten widersprechen

Autorität und Eitelkeit

Mit Druck und Strafe umgehen lernen

2. Anlauf: Loyale Kritik oder falsche Selbstsicherheit?

Der selbstsichere Kritiker

Sich selbst kritisieren

Das System kritisieren

Aus Mitleid kritisieren

3. Anlauf: Kirche und Papst lieben – und dennoch kritisieren

Die Kirche lieben

Den Papst lieben

Kritik und Demut

4. Der Verdachtslogik widersprechen

5. Dem Schweigen widersprechen

Anmerkungen

Einführung

Dieses Buch ist allen gewidmet, die unter der gegenwärtigen Situation in der Kirche leiden, insbesondere den Katholiken unter ihnen. Aber vielleicht findet es über den Tellerrand innerkirchlicher Fragestellung hinaus weitere interessierte Leserinnen und Leser. Die Spannung zwischen Loyalität und Widerspruch erleben Menschen schließlich in vielen anderen Zusammenhängen genauso – in Familien, Betrieben, Parteien, nationalen, konfessionellen und religiösen Zugehörigkeiten. Zu widersprechen in einer Gruppe, die einen Anspruch auf Loyalität hat und der man sich selbst loyal verbunden fühlt, ist immer mit innerem Ringen und äußeren Konflikten verbunden. In der Geschichte hat sich jedoch oft genug gezeigt, dass Menschen, die loyal Widerspruch einlegen, ihre Familien, Betriebe, religiösen Gemeinschaften und Nationen wirklich einen Schritt voranbringen. Widerspruch aus Loyalität ist ein Geschenk für alle Beteiligten.

Auslösend dafür, etwas zu schreiben, war für mich die Begegnung mit einem katholischen Elternpaar. Beide waren dankbar dafür, dass ihre drei Kinder über Weltjugendtage und andere Begegnungen in der Kirche eine unbefangene Freude an ihrer Katholizität gefunden hatten. Neben Postern von Fußballstars und anderen Kultfiguren der Jugendszene hingen weiß-gelbe Flaggen und Bilder des Heiligen Vaters in ihren Zimmern. Sie gehörten zu den aktiven Jugendlichen in der Gemeinde, und sie engagierten sich im Sinne der Kirche auch in Schule und Gesellschaft. Doch nun, so berichteten die Eltern mir, haben ihr Sohn und ihre Töchter die Vatikan-Flagge aus ihrem Zimmer abgehängt und die Papst-Poster in den Papierkorb gesteckt. Grund dafür sei der Umgang der kirchlichen Hierarchie und auch des Papstes mit – aus ihrer Perspektive – berechtigter Kritik.

Es gibt das Leiden an der Situation der Kirche, und es gibt das Leiden an diesem Leiden. Es gibt Kreise in der Kirche, die das Wort »Leiden an der Kirche« nicht hören können, ohne schon an diesem Wort und an denen, die es in den Mund nehmen, zu leiden. Damit steht die katholische Kirche vor einem ernsten internen Kommunikationsproblem. Die einen sind entsetzt darüber, dass der Papst exkommunizierte Bischöfe ohne inhaltliche Bedingungen wieder zu den Sakramenten zulässt, die anderen sind entsetzt über das Entsetzen und verstehen die ganze Aufregung nicht. Die einen finden den Anblick einer Kirchenleitung, die sich von einem Holocaustleugner mehr als eine Woche lang vor den Augen der Welt am Ring durch die Arena ziehen lässt, unerträglich, die anderen finden die Berichterstattung über diesen Vorgang unerträglich. Die einen sehen informelle Strukturen hinter wichtigen Personalentscheidungen am Werk und beklagen dies, die anderen haben Zugang zu diesen informellen Strukturen und beklagen sich über die Übermacht von Verfahren und Gremien, die sie behindern. Die einen sind über dieselben Entwicklungen ergrimmt, die bei den anderen Triumphgefühle auslösen. Die einen äußern sich kritisch darüber, die anderen diagnostizieren in der Kritik Feindseligkeit.

Der Vergleich mag gewagt sein, aber vielleicht trifft er doch: Die schlimmsten Kriege sind die Bürgerkriege. Das interne Kommunikationsproblem ist ein ernstes Problem, weil es eine Menge an Gewaltpotential in sich birgt. Meist fängt die Gewalt mit der Schärfe der Sprache an, die übergeht in Handgreiflichkeiten und schließlich in dauerhaften Zerwürfnissen mündet. Das trifft auch auf Religionen zu. Religiös motivierte Gewalt richtet sich in der Regel nicht gegen Mitglieder anderer Religionen, sondern gegen Gläubige der eigenen Religion, die abweichen.

In dieser Situation hilft das, was in der kirchlichen und besonders auch in der ignatianischen Tradition »Unterscheidung der Geister« genannt wird. Denn es ist für die Einheit der Kirche und anderer vergleichbarer Gruppierungen wichtig, zu einer gemeinsamen Sprache zurückzufinden, oder besser: vorzustoßen. Die Unterscheidung der Geister nimmt Gefühle ernst, statt sie einfach abzutun. Die »Bewegungen und Gefühle« sind in den ignatianischen Exerzitien der Stoff der Unterscheidung. Keine Gefühlsbewegung kann ohne den Akt der Reflexion, des »Kostens und Schmeckens« (GÜ 2) 1bewertet werden als Regung des guten Geistes oder des bösen Geistes (vgl. GÜ 314f.). Also ist die geistliche Reflexion die Tätigkeit, bei der wir ansetzen müssen, wenn wir nicht in den Gräben verharren wollen. Traurigkeit kann vom guten oder vom bösen Geist kommen, ebenso das Gefühl, Recht zu haben, oder das Triumphgefühl. Kritik kann vom guten oder vom bösen Geist sein. Entscheiden lässt sich das nur durch die geistliche Unterscheidung selbst, nicht durch verletzten Rückzug ins Schweigen oder durch wilde Polemik gegen die bösen Anderen.

Die ignatianischen Regeln zur »Unterscheidung der Geister« zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie nicht von vornherein bestimmte »Geister« als böse oder gut qualifizieren. Sie bestehen nicht in der Anwendung von abstrakten Prinzipien auf konkrete Situationen. Vielmehr geht es um eine Kunst des »Kostens und Schmeckens«, also um Wahrnehmungskunst. Da Gefühle wahrgenommen werden, lässt sich zunächst nichts verallgemeinern. Der eine ist traurig gestimmt wegen bestimmter Ereignisse, der andere nicht. Es macht keinen Sinn, dem anderen vorzuwerfen, dass er oder sie in derselben Situation anders empfindet als ich.

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