Aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts ist klar, dass Marie mit ihren Analysen ins Schwarze traf. Für ihr Brugger Umfeld waren diese Gedanken Häresien. «Ich habe keinen Menschen, dem ich solche Gedanken aussprechen dürfte; ich denke aber, Du musst auch in dieser Hinsicht ähnlich fühlen wie ich. ‹Du denkst eben anders als andere Leute›, das ist immer die Bemerkung, mit der die Verhandlung schliesst, wenn ich einmal einen eigenen Gedanken ausspreche.» 13
Zu Recht vermutete Marie in Marie Ritter eine verwandte Seele. In ihren Lebenserinnerungen berichtet die Glarnerin, wie sie als Kind unzufrieden war, wie sie anders dachte als ihre Umwelt und deshalb glaubte, mit ihr stimme etwas nicht. Gerade im Schicksalsjahr 1867 war die Freundschaft der beiden Frauen entscheidend. Ein weniger kritischer Geist als Marie Ritter wäre erschrocken und hätte das kühne Vorhaben kaum unterstützt.
Gegen Jahresende war Marie bereit, sie setzte alles auf eine Karte, nun sollte der Vater von ihren Plänen erfahren. «Was ich entschlossen bin, mir von meinem Vater zu erbitten, ist unendlich schwer zu erlangen, so schwer, dass ich oft an der Möglichkeit verzweifle. Und doch bin ich fest entschlossen, alles daran zu setzen, weil ich die Überzeugung habe, dass das, was ich verlange, recht ist, dass es mein wahrer Beruf ist. Nach Neujahr denke ich, das grosse Wagnis zu unternehmen, von dessen Resultat ich sowohl vor Furcht der Niederlage, als vor Hoffnung auf Erfolg zittere.» 14
Marie Ritter, die verlässliche Vertraute
Einzig ihre Schwester Anna begleitete Marie länger durchs Leben als die treue, gescheite Glarner Freundin Marie Ritter (1842–1933). Wie ein roter Faden zieht sich die jahrzehntelange Beziehung der beiden Maries durch ihre Biografien. Während den turbulenten Monaten des Abschieds von Fritz und des Entscheids zum Studium war Marie Ritter vermutlich die einzige Person, die Maries intimste Geheimnisse kannte. Stets begleitete und ermunterte Marie Ritter liebevoll-kritisch Marie auf ihrem Weg. Die Briefe aus Schwanden sind verloren, dagegen existieren Maries Antworten aus der Studienzeit. Neben den Briefen an Vater Julius sind sie die wichtigste Quelle für Maries Schicksalsjahre. In zwei Anläufen, im Alter von 81 und 86 Jahren, verfasste Marie Ritter einen Rückblick auf ihr Leben. Dank dieser Arbeit ist ihre Stimme nicht ganz verstummt.
Die um drei Jahre ältere Glarner Freundin blieb ledig. Ihr Werdegang ist beispielhaft für eine hochbegabte Frau, die auf ihre Weise – ähnlich wie Marie – nicht in ein vorgegebenes Lebensmuster passte. Selbst an der Abdankung war ihr Zivilstand ein Thema: «Man möchte vielleicht das Schicksal anklagen, das einem solchen tiefangelegten Menschen, in dem ein starker Familiensinn gewachsen war, die Gründung einer eigenen Familie versagte, aber gerade im Leben unserer Verstorbenen ist offenbar geworden, dass auch im Dasein der Ehelosen die feinsten, zartesten Lebensäusserungen sich entfalten können, dass auch ein solches Leben ein überaus reiches, gesegnetes und beglückendes werden kann.» 1
Die Voraussetzungen der beiden Maries waren ähnlich. Die Väter Julius Vögtlin und Johann Georg Ritter hatten miteinander in Basel und Berlin studiert. Beide führten ein Pfarramt auf dem Land, waren theologisch der konservativen Richtung verpflichtet und intellektuell sehr interessiert. Pfarrer Ritters Eltern hatten ihr Vermögen verloren, in seiner Jugend lebte er in engen wirtschaftlichen Verhältnissen. Das Geld für sein Studium streckte ihm ein Onkel aus Diessenhofen vor, «mit sehr wenig Aussicht, es wieder zu erhalten.» 2Als Johann Georg Ritter die erste Pfarrstelle antrat, nahm er seine Eltern zu sich. Während Marie Ritters Kindheit lebte die Grossmutter noch immer im Haushalt des Sohnes.
1845 zogen Ritters nach Schwanden. Hier verbrachte Marie Ritter, mit Ausnahme einiger weniger Jahre in Montmirail und Elm, den Rest ihres ausserordentlich langen Lebens. Sie erlebte tief greifende politische und wirtschaftliche Umbrüche. Als Fünfjährige fieberte sie 1847 im Sonderbundskrieg mit: «Die allgemeine Aufregung ergriff auch mich; ich stand auf der Fensterbank im Stillstandzimmer und sah zu, wie die Soldaten in ihren engen Fräcken und Tschakkos fortmarschierten.» 3Marie Ritter starb im Januar 1933, im selben Monat wurde Adolf Hitler in Deutschland Reichskanzler, und in der Sowjetunion wütete Stalin. Statt zu Fuss oder mit der Postkutsche reiste man nun mit der Eisenbahn oder im Flugzeug, abends versammelte sich die Familie nicht mehr um eine einzige Kerze, in den Häusern gab es Elektrizität und fliessendes Wasser.
Doch zurück zur kleinen Marie Ritter: «Sie hatten bestimmt einen Buben erwartet […], es war eine sehr strenge Zangengeburt […]. Natürlich waren dann alle froh, wenn’s auch nur ein ganz mageres Mädchen war. Aber weil Alle so bestimmt auf einen Buben gerechnet hatten, so ist das wohl der Grund, dass ich mein Leben lang mehr Freude an Bubenbeschäftigungen hatte.» 4
Marie Ritter besuchte die Primar- und Sekundarschule an ihrem Wohnort Schwanden. Das Lernen fiel ihr leicht. Da immer zwei Klassen gemeinsam unterrichtet wurden, schaffte sie die Unterstufe im Eiltempo, mit 10½ Jahren (statt mit dreizehn) kam sie in die Sekundarschule. Das unterforderte Mädchen sorgte offenbar für Betrieb und liess sich, nachdem sie ihre erste Schüchternheit überwunden hatte, immer wieder neue Streiche einfallen. «Übermut und Frechheit kamen in volle Blüte.» Dieses Verhalten wurde im Pfarrhaus wenig geschätzt: «[…] daheim wartete meiner gewöhnlich die Ruthe. Die machte aber auch nicht den gewünschten Eindruck auf mich. Ich dachte, ich wolle es machen wie der berühmte Römer Mucius Scaevola, der Schmerzen erduldete ohne zu muksen. Ich liess also drauf los schlagen ohne einen Laut und dachte, es sei ja eigentlich gleich, ob ich mich so oder so aufführe, die Ruthe werde ich ja so wie so bekommen.» 5Der kleine Bruder Hans dagegen verhielt sich unauffällig und angepasst und blieb von Schlägen verschont.
Während den kritischen Monaten des Entscheids zum Studium war die Glarner Freundin Marie Ritter Maries engste Vertraute.
Marie Ritter, «eine ganz gemütliche alte Jungfer geworden», marschierte noch mit 90 Jahren regelmässig von Schwanden nach Glarus. Die Nachkommen ihres Bruders schätzten sie als hochintelligente, liebenswürdige Persönlichkeit.
Marie Ritter liebte und achtete ihre Eltern, und doch war ihre Kindheit keine Idylle: «Ich war überhaupt als Kind gar nicht recht zufrieden. Ich fühlte, dass ich in den meisten Dingen anders denke als das allgemeine Publikum, und stellte mir vor, weil die Mehrheit anders denke, so werde ich wohl nicht recht im Kopf sein. Im späteren Leben habe ich aber noch viele gleichgesinnte Seelen und Bücher gefunden und mich darüber beruhigt, wenn ich nicht ganz mit der öffentlichen Meinung übereinstimmte.» 6
Die klassische Frauenrolle war nichts für Marie Ritter: «Die Puppen konnte ich nie ausstehen, sie stiessen mich förmlich ab mit ihren Glotzaugen und ihren steifen, unnatürlichen Leibern, höchstens grübelte ich ihnen etwa die Sägespäne heraus, um zu sehen, was sie eigentlich für Eingeweide haben.» 7Auch Mode war für sie kein Thema: «Mir war schon von Kind auf alle Eleganz ein Gräuel; ich war todunglücklich, wenn ich etwas Neues oder Auffallendes anziehen musste […]. Bei dieser Wertschätzung der Toilette kann man sich denken, dass ich meine Kleider nicht besonders schonte. In allem Schmutz und auf allen Leitern und Bäumen kletterte ich herum.» 8Ihre Mutter reagierte verständnisvoll und sorgte für eine widerstandsfähige Ausrüstung.
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