Notgedrungen lenkte Domenico ein und ließ sich von Cristina mitten unter die feine Hofdienerschaft ziehen.
„Meint Ihr, junger Herr“, fragte Angelo, „sie wird gnädig mit ihm sein?“ Ein Lächeln fiel auf seine wulstigen Lippen, darüber schloss sich eine nicht minder ausgeprägte Nase und breite Stirn an, die in langes, kupferfarbenes Haar überging – ein missglückter Versuch des Maestros, dem Hofvolk die Angst vor dem schwarzen Koloss zu nehmen.
„Ich fürchte, er bekommt, was er verdient.“
„Ich denke, sie auch.“
Es sollte keinen Atemzug länger dauern, als sich um die beiden Tänzer ein Kreis bildete. Anfeuerungsrufe gellten durch den Saal.
„Nimm mich hoch“, befahl Lorenzo, und Angelo setzte ihn auf die Schultern.
Hier oben hatte der junge Tiepolo freie Sicht. Welch wunderbar inspirierender Anblick! Masken, wohin Lorenzo schaute. Kleine, mit Pailletten besetzte Augenmasken konkurrierten mit üppig verzierten Gesichtern. Andere stellten Tiere dar – Katzen, Tiger oder Vögel, aus denen Federn sprossen. Einer ging mit der schwarzen Schnabelmaske des Pestdoktors umher – runder Hut und ein einfaches, wallendes Gewand, einen Stock in der Hand, um Kranke abzuhalten. Er jagte Lorenzo einen Schauer über den Rücken.
„Fürchtet Ihr Euch, junger Herr?“, fragte Angelo, dem nichts zu entgehen schien, obwohl ihm seine langen, kupferfarbenen Haare ins Gesicht hingen. Es war seine Art der Maskierung, wenngleich niemand diesen Koloss verwechseln konnte.
„Pah, niemals!“, log Lorenzo, wissend, dass er Angelo nicht belügen konnte. Der war von klein auf an seiner Seite gewesen, hatte mit ihm gespielt, ihn getröstet und beschützt. Er war sein eigentlicher großer Bruder gewesen, während Domenico schon damals in der Werkstatt des Vaters arbeitete.
„Ich spüre, wie Ihr zittert.“
„Du irrst. Es ist die Freude, nicht die Angst.“
„Vermisst Ihr die Heimat?“
Lorenzo seufzte. „Ich wünschte, Mutter wäre hier und könnte mit uns feiern. Es ist so ein prachtvolles Fest.“
„Ich bin sicher, sie ist mit jedem Gedanken bei Euch.“
„Und ich bei ihr“, sagte er leise und drückte eine Träne weg. „Genug, jetzt“, er holte tief Luft, „ich will Spaß haben. Sag, was wollen wir als Nächstes tun?“ Ihm stand der Sinn nach einem Abenteuer.
„Der Fasan könnte uns munden.“
Es verging keine Stunde, in der Angelo nicht ans Essen dachte. Kein Wunder. Sein muskulöser Körper wollte versorgt werden.
„Achtzehn Speisen und fünf Körbe mit feinstem Konfekt sind gereicht worden“, antwortete Lorenzo verblüfft, „dazu Wein, Bier und Geistiges. Hast du immer noch nicht genug?“
„Nicht einen Bissen habe ich bekommen.“
„Hat man dir etwa nichts in der Küche serviert?“
„Sie fürchten mich, junger Herr.“
„Unverschämtheit!“ Ein entschiedener Schenkeldruck und Angelo setzte ihn ab. „Warte hier. Ich werde dir etwas besorgen.“
„Wie Ihr befehlt.“
Wieder auf den Beinen drückte sich Lorenzo an den klatschenden, singenden und auch taumelnden Gestalten vorbei, jetzt nicht mehr vom Zauber eines Maskenballs durchdrungen, eher missmutig bis aufgebracht.
„Tretet zur Seite!“, blaffte er einen im Kostüm eines französischen Chevaliers an, nicht wissend, wer genau sich dahinter verbarg. Der Nächste stellte sich ihm geradewegs entgegen, ein beleibter Kerl mit verschwitzten, schwarzen Haaren, darunter die furchterregende Maske eines Drachen oder sonstigen Getiers mit Nüstern und klaffenden Zähnen.
„Wohin des Wegs, junger Tiepolo?“
Lorenzo stockte. „Woher wisst Ihr, wer ich bin?“, und im selben Moment ging die Hand zur Maske, die er aufs Haupt gerückt hatte. „Wer seid Ihr?“
Der Drache nahm die Maske ab. Es war der Meister des Stuckierens höchstselbst, der Lombarde Antonio Bossi, mit dem sein Vater in den vergangenen Wochen immer wieder zusammengesessen und die Ausgestaltung des Saales besprochen hatte. Ein wichtiger Mann, er sollte vorsichtig sein.
„Verzeiht, wenn ich Euch nicht gleich erkannt habe“, entschuldigte sich Lorenzo. „Der Appetit treibt mich zur Tafel.“
In Bossis Begleitung befand sich ein weiterer, etwas dicklicher Maskierter, dem der Hut eines türkischen Janitscharen nicht ganz passen, wie auch der angeklebte schwarze Bart nicht länger halten wollte. Es handelte sich unverkennbar um Balthasar Neumann, den Baumeister dieser fürstlichen Residenz zu Würzburg, und nach dem Hausherrn um den wichtigsten Befehlsgeber am Hof, auch und gerade für die Tiepolos.
Eine hastige, vielleicht übertriebene Verbeugung Lorenzos sollte die Unachtsamkeit wettmachen. „Seid gegrüßt, Meister Neumann.“
Der nahm den jungen Spross des großen Tiepolo kaum wahr, seine Aufmerksamkeit gehörte den Gästen. Disziplin und Ordnung standen für ihn an erster Stelle. Dass es ja niemand mit der Ausgelassenheit übertrieb. Der Fürst dinierte im Kreis seiner erlauchten Gäste nicht weit entfernt, und Neumann war selbstredend einer von ihnen. Wenngleich nicht von vornehmer Herkunft, so war er doch ein hochdekorierter Obrist im Kampf gegen das Türkenheer vor Belgrad und nicht weniger des Fürsten wichtigster Diener in diesem atemberaubenden Bauvorhaben.
„Wo ist Euer Vater?“, fragte Bossi mit schwerer Zunge. „Ich glaube, ihn noch vor einem Moment gesehen zu haben.“
„Er hat sich zurückgezogen. Die Entwürfe für den großen Saal beschäftigen ihn über alle Maßen.“
„Daran tut er wohl“, antwortete Neumann unerwartet und mit einer unverhohlenen Warnung, „nicht, dass wir erneut auf einen Betrüger hereinfallen.“
Damit war ein windiger Gauner namens Visconti gemeint, der vor den Tiepolos an den Hof berufen worden war. Statt die Räume und Decken kunstfertig auszumalen, versteckte dieser Filou sich hinter einem Gerüst und verprasste den üppigen Vorschuss für Wein, Weib und Gesang. Die Schmach war in Windeseile durch die Lande gegangen und hatte manch schadenfrohen Geist gefunden.
Lorenzo wusste von den hohen Erwartungen, die nun an die Tiepolos gestellt wurden. Er beschwichtigte: „Habt keine Sorge. Mein Vater wird Wunderbares, nie Dagewesenes vollbringen. Das kann ich Euch versprechen. Nun entschuldigt mich, mein Hunger lässt sich nicht länger bezähmen.“
Nur schnell weg, keinen Blick zurückwerfen und besser etwas vorsichtiger sein. Auf diesem Fest der Diener trieben sich maskierte Herren herum, selbst wenn sie eigentlich keine waren.
Die lange Tafel mit den vielen Speisen und Getränken lag verwaist da, während die Gäste von Cristinas Freizügigkeit berauscht wurden. Nur einer konnte dem Treiben nichts abgewinnen: Der alte Hofnarr in seinem lächerlich normalen Kostüm, grün-weiß gestreift, mit einem Sternenkranz von Glöckchen um Leib und Haupt. Seiner Arbeit beraubt, kümmerte er betrunken in einer Ecke. Lorenzo fühlte mit ihm. Wozu war ein Narr unter lauter Narren noch nützlich?
Da packte ihn jemand am Arm. „Komm mit!“, befahl Domenico außer Atem und schweißgebadet. „Cristina wird uns noch alle ins Verderben stoßen.“
„Lass mich los!“, widersetzte sich Lorenzo, „Angelo hat noch nichts … “ Doch es war vergebens, schließlich überflüssig. Angelo tauchte hinter Domenico auf. Er ließ seine Schutzbefohlenen nie aus den Augen.
„Das wird nicht gut enden.“
„Soll sie sehen, wie sie das Vater erklärt. In ihr steckt der Teufel.“
Weiterer Widerspruch war zwecklos, Gegenwehr vergebens. Domenico zog seinen Bruder aus dem Saal, hinaus in den weiten, leeren Gang, wo sich die Stimmen brachen und in den Schatten verloren.
„Wir können sie doch nicht einfach zurücklassen“, protestierte Lorenzo.
Domenico wollte nichts davon wissen. „Doch, können wir.“
Ein flehender Blick zurück. „Angelo …“
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