Beide Seiten nutzten in dieser Auseinandersetzung Hinweise auf die Dagobert-Legende als historisches Argument in ihrem aktuellen Rechtsstreit um den Status der Stadt – die erzstiftische Seite allerdings deutlicher als die Stadt, die ihre Freiheit ausdrücklich noch vor die Zeit des Wiederaufbaus durch Dagobert zurückdatierte. Bei der Definition jener wenigen, eng begrenzten Rechte, die Dagobert oder ein Nachfolger an die Erzbischöfe weitergegeben habe, stimmen die einschlägigen Abschnitte der Geschichte vom „Ursprung der Stadt Mainz“ in hohem Maße mit der Argumentation der Stadt im damaligen Rechtsstreit überein. Denn dass der Erzbischof über die Mainzer Gerichte verfügen konnte, gestanden auch die Verfasser der städtischen Stellungnahme von 1443 jenem ausdrücklich zu. 59Im Übrigen sei die Stadt jedoch dem Erzbischof in keiner Weise verbunden oder unterworfen. Der Hinweis der städtischen Seite auf die Freiheit der Stadt auch von königlicher Herrschaft stimmt ebenfalls mit den entsprechenden Behauptungen der Geschichte vom „Ursprung der Stadt Mainz“ überein, wo betont wurde, Oppenheim, Bingen und der Rheingau hätten dem Reich unterstanden, auf seine Rechte in der Stadt Mainz aber habe schon Dagobert im Wesentlichen verzichtet. Diese große Nähe des Textes zur Argumentation der Stadt im Rechtsstreit mit dem Erzbischof in den Jahren 1443/44, aber auch die Übereinstimmung bei der oben schon diskutierten Ratswahlordnung in diesem Zeitraum 60sowie die Tatsache, dass die Überlieferung der handschriftlichen Zeugnisse gerade zu diesem Zeitpunkt Mitte der 1440er Jahre einsetzt: Alles dies spricht dafür, dass der Bericht damals entweder überhaupt erst entstanden oder zumindest in einer Überarbeitung auf die aktuellen Bedürfnisse der städtischen Partei hin angepasst worden ist. 61
Mit Sicherheit war es auch der Streit um die Mainzer Rechte und Freiheiten in jenen Jahren, der den Rat veranlasste, die königlichen Rechte und Privilegien der Stadt zweimal, im Jahre 1442 und nochmals im Februar 1444, als sich der Rechtsstreit mit dem Erzbischof zuspitzte, zusammenstellen und notariell beglaubigen zu lassen. 62Über Friedrich II. und damit über das 13. Jahrhundert allerdings reichten die städtischen Urkunden nicht zurück, über die man damals verfügte. Das Resümee der kleinen Chronik hob den Stauferkaiser daher nicht zufällig als Wohltäter der Stadt hervor. Aber auch die erzstiftische Verwaltung konnte keine Urkunde Dagoberts vorlegen, sondern lediglich einen vagen, höchst spekulativen Registereintrag. 63Demgegenüber beschwor auch der Text der prostädtischen Chronik am Ende noch einmal den Glauben an die Privilegierung der Stadt bereits durch König Dagobert: Kaiser Friedrich II. habe die Freiheiten Dagoberts bestätigt, die von vielen späteren Kaisern erneut bestätigt worden seien – und so mussten doch alle diese Freiheiten letztlich aus einer Zeit stammen, in der noch kein Bischof zu Mainz irgendwelche Rechte hatte, wie der Chronist resümierte.
IV. Dekonstruktion und Weiterleben der Dagobert-Legende seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts
Die kaiserlichen Mainzer Privilegien waren nach der Unterwerfung unter den Erzbischof im Jahre 1462 kein Thema der Auseinandersetzung mehr, alle unmittelbaren Kontakte der Stadt zum Reich brachen damals ab. 64Die Geschichte von Dagobert als dem Wiederbegründer der Stadt und von seiner Mainzer Königsburg, wie sie bereits Gozwin im 11. Jahrhundert formuliert hatte, hielten aber auch die Gelehrten und Historiker des Mainzer Erzstifts wie Nicolaus Serarius oder Georg Christian Joannis im 17. und 18. Jahrhundert selbstverständlich weiterhin für wahr. 65Anlass für einen neuen Aufschwung der Legende im populären Bewusstsein der Mainzer war dann die französische Herrschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Denn mit dem Frankenkönig Dagobert konnte man eine enge Verbindung der Metropole am Rhein mit der französischen Nation und ihren nationalen Mythen konstruieren. So schweben über einer Mainzer Stadtansicht von 1807/09, die Teil des großformatigen sogenannten Brühlschen Plans war, drei mit Girlanden verbundene Medaillons, die von Engeln gehalten werden (Abb. 2). Neben zwei Mainzer Bürgern, Johannes Gutenberg und Walpod, dem Gründer des Rheinischen Städtebundes von 1254, sowie neben dem aktuellen Herrscher Napoleon huldigte das dritte Medaillon Dagobert I., dem König der Franken und Restaurator der Stadt Mainz. 66
Noch der renommierte Historiker Karl Anton Schaab hat die historische Überlieferung von Dagobert als Bewohner einer Mainzer Königsburg und als Gründungsfigur der Stadt geglaubt und in seiner einflussreichen Geschichte der Stadt Mainz von 1840 ausgebreitet. 67Noch hielt Schaab auch die beiden Urkunden für das Bistum Worms und St. Maximin in Trier mit den angeblichen Belegen einer Mainzer Königspfalz für echt. 68Erst die Publikation der ersten Ausgabe der Merowingerurkunden durch die Monumenta Germaniae Historica im Jahr 1872 69brachte das Gebäude ins Wanken. Aber könnte nicht doch eine Pfalz vorhanden gewesen sein, wenn Dagobert seinen Weg 630/31 in das Wendenland gerade über Mainz nahm? 70So jedenfalls suchte noch Franz Falk 1873 eine solche Königspfalz für Mainz zu Zeiten Dagoberts zu retten, auch wenn die betreffenden beiden Urkunden von 628 und 634 seinen Worten zufolge mittlerweile „stark beanstandet“ worden seien. 71
Abb. 2: Ehrentafel für König Dagobert I. als dem Wiederbegründer der Stadt Mainz im Stadtplan von Heinrich Brühl aus der Zeit um 1807/09 (Stadtarchiv Mainz, BPSP 392 D) .
Einige Jahre später sprach sich der Herausgeber der Mainzer Chroniken, Karl Hegel, über die eingangs dieses Beitrags zitierte Geschichte so aus: „Ob und in wie weit der durchaus fabelhafte Gehalt derselben aus freier Dichtung entsprungen ist oder auf älterer Überlieferung beruht, wüßte ich nicht zu sagen […] Wie weit im übrigen die historische Sage von der Erbauung von Mainz durch K. Dagobert im Mittelalter zurückreicht, will ich hier nicht untersuchen.“ 72In der wissenschaftlichen Terminologie der Zeit war mit den Begriffen „fabelhaft“, „freie Dichtung“, „ältere Überlieferung“ und „historische Sage“ das Urteil gesprochen. Die Geschichte von Dagobert als dem Erbauer der Stadt Mainz hatte seit der Entwicklung der modernen Methoden der wissenschaftlichen Textkritik im 19. Jahrhundert nicht nur ihre sachliche Glaubwürdigkeit, sondern auch ihre Relevanz eingebüßt – und der Historiker Hegel gedachte nicht, sich damit näher zu befassen.
Wenn Hegel die Geschichte vom „Ursprung der Stadt Mainz“ als Ganzes abqualifizierte, übersah er dabei freilich, wie aufschlussreich dieser Entwurf einer volkssprachlich abgefassten Mainzer Frühgeschichte im Ganzen, aber gerade auch das Dagobert-Motiv mitsamt den daraus abgeleiteten rechts- und verfassungsrelevanten Schlussfolgerungen für das Selbstverständnis und die historische Selbstvergewisserung 73der Mainzer Bürgerschaft des 15. Jahrhunderts war – in einer ökonomischen und sozialen Krisenzeit, als der weitere Verlauf der Mainzer Geschichte auf des Messers Schneide stand.
Darüber hinaus reflektiert der Bericht auch über den Einzelfall hinaus verbreitete Erzählmotive der Stadtgeschichtsschreibung. Dazu gehören Vorstellungen von einer latenten Bedrohung, die von einer nahe gelegenen Burg und ihren Bewohnern ausging, gegen die man sich als Stadtbürger am besten mit der Errichtung einer eigenen Mauer und der Zerstörung der Burg wehrte, von der die Bedrohung ausging. 74Ein anderes Erzählmotiv ist der schon bei Gozwin angelegte Plot „Von der völligen Zerstörung zu einem Wiederaufstieg, der zu größerer Pracht und Bedeutung führt als jemals zuvor“. 75Auch wenn ein Germaneneinfall in der Neujahrsnacht 407 mit katastrophalen Verwüstungen für Mainz verbürgt ist, lässt sich tatsächlich doch weder die eine entscheidende Situation einer totalen Zerstörung der Stadt noch der konkrete Zeitpunkt für einen umfassenden Wiederaufbau angeben. Der Hunneneinfall von 451 scheint dagegen für Mainz, anders als es Gozwins „Passio Albani“ behauptet hatte, keine größeren Schäden verursacht zu haben. Alle historischen Indizien verweisen vielmehr hier wie auch anderswo in der Spätantike auf eine längere Fortdauer römischer Herrschaft und Kultur auf einem reduzierten zivilisatorischen Niveau, bevor sich die Situation auch des Mainzer Bischofssitzes im Frankenreich wieder festigte. 76Doch sind solche zuspitzenden Vereinfachungen typisch für eine Geschichtsschreibung, der es auf die Festigung einer historisch begründeten kollektiven Identität ankam, sei es eines Klosters oder einer Stadtgemeinde. 77Die Forschung hat erst in jüngerer Zeit den Wert solcher Überlieferungen für das Selbstverständnis der dahinter stehenden Milieus, aber auch den Zusammenhang dieser Erzählungen mit bestimmten erzählerischen Grundstrukturen erkannt.
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