Das Beispiel Barbosa verdeutlicht zweierlei: zum einen, wie stark der Aberglaube die brasilianische Gesellschaft prägt, und zum anderen, welch religiöse Dimension dem Fußball zukommt. »Die Brasilianer sehen im Fußball das Spiel der Götter«, schreiben Karin Sturm und Carsten Bruder im Buch »Zwischen Strand und Stadion«. Und zwar »jener Götter, die über das Schicksal von Sieg und Niederlage entscheiden, die darüber richten, auf welcher Seite die Gewinner und auf welcher Seite die Verlierer des Lebens stehen«.
So sehr die Verlierer geächtet werden, so sehr fliegen den Siegern die Herzen zu. Pelé, der als einziger Fußballer dreimal eine WM gewann (1958, 1962 und 1970), wird heute noch als O’Rei, als König, verehrt und genießt einen Status wie Kaiser Franz Beckenbauer in Deutschland. Nach dem legendären Dribbelgenie Garrincha, den die Brasilianer »die Freude der Armen« nannten, wurde das Stadion in der Hauptstadt Brasília benannt. Romário, den Torschützenkönig und Weltmeister von 1994, wählten die Stimmbürger im Oktober 2010 für die sozialistische Partei in den Nationalkongress. Im Walk of Fame im dritten Stockwerk des Maracanã-Stadions hat er seine Spuren ebenso hinterlassen wie Ronaldo, Rivaldo, Ronaldinho und Cafù, die Helden, die Brasilien im Jahr 2002 den fünften und bisher letzten WM-Titel bescherten.
Um Titel Nummer sechs, das Hexacampeão, in einem würdigen Rahmen feiern zu können, wurde das legendäre Maracanã für über 300 Millionen Euro komplett umgebaut. Dass die Brasilianer die langersehnte Heim-WM mit einer gehörigen Portion Selbstbewusstsein angehen können, hängt mit der gelungenen Generalprobe zusammen, mit dem Gewinn des Confederations Cup im Juli 2013. Vom 3:0-Auftaktsieg gegen Japan, dem 2:0 im Duell mit Mexiko, dem rauschhaften 4:2 über Italien, dem knappen 2:1 im Halbfinale gegen Uruguay bis zum 3:0-Finalerfolg gegen den amtierenden Welt- und Europameister Spanien bekam die Seleção ein Gefühl davon, was es bedeutet, von einem frenetischen und stolzen Publikum getragen zu werden. » O campeão voltou! O campeão voltou!«, sangen die 73.531 Fans im Maracanã inbrünstig. »Der Champion ist zurück!«
Der Triumph über die spanische Tiki-Taka-Armada hatte eine kathartische Wirkung. Über Nacht, im wahrsten Sinne des Wortes, waren die Enttäuschungen der vergangenen Jahre vergessen, als sich die Auswahl bei großen Turnieren und belanglosen Freundschaftsspielen blamierte und in der Weltrangliste zwischenzeitlich auf Rang 19 abrutschte. Abseits des Rasens war bei dieser Mini-WM zwar allerhand schief gelaufen, die Republik erlebte (ein Jahr vor den Regierungswahlen) die größten Proteste ihrer jüngeren Geschichte, die geprägt ist von Wirtschaftswachstum und Aufbruchsstimmung. Aber auf dem Platz gelang den Hausherren fast alles. »Die Fans haben sich nach einer Seleção gesehnt, die vibriert, mit Herz spielt«, sagte Nationaltrainer Luiz Felipe Scolari. Er habe Respekt vor Deutschland, Argentinien, England, Spanien, Holland, Italien oder Frankreich, aber er vertraue seinen Spielern. »Sie wissen, dass wir Weltmeister werden müssen. Wir können dieses Turnier nicht spielen und denken, der zweite Platz wäre ausreichend.«
Brasiliens Hoffnungen ruhen auf den schmächtigen Schultern von Neymar da Silva Santos Júnior, einem 22-Jährigen Jüngling, der beim Confederations Cup mit vier Treffern und zwei Torvorlagen zum besten Spieler des Turniers gewählt wurde. Auf ihn ist das gesamte Offensivspiel des WM-Gastgebers ausgerichtet. In den 19 Test- und Pflichtländerspielen, die die Seleção in den Jahren 2012 und 2013 rund um den Globus absolvierte, stand nur die »Zaubermaus aus Mogi das Cruzes« (Kicker) immer in der Startelf und erzielte mit zehn Toren auch die meisten Treffer. Der Sohn eines Mechanikers und einer Küchenhilfe füllt in Brasilien eine Lücke, die eigentlich gar nicht auszufüllen ist. Die Nation sehnt einen Ausnahmekicker herbei, der den Argentinier Lionel Messi endlich vom Thron des Weltfußballers stürzen und die Seleção wieder zu alter Stärke führen kann. Seit dem letztmaligen WM-Triumph (2002) schaffte es der Rekordweltmeister nicht mehr in ein Halbfinale. Neymar, »der Auserwählte«, wie ihn die spanische Zeitung El Periodico nennt, hat den Auftrag, Brasilien wieder an die Spitze des Weltfußballs zu führen. Das Mundial 2014 soll zu seiner Krönungsmesse werden. So erträumen es sich zumindest die Brasilianer. Selbst Staatspräsidentin Dilma Rousseff jubelt: »Wir, die Brasilianer, sind es, die Neymar haben!«
Das Rüstzeug für die Mission Hexacampeão bringt Neymar zweifellos mit. Sein außergewöhnliches Talent zeigte sich schon in jungen Jahren, als er in seinem Heimatort Praia Grande dem runden Leder nachjagte. An der Küste rund um die Hafenstadt Santos sind die Straßen abschüssig, eine Halbzeit spielt man bergab, die andere bergauf. Bergab spielen war schwieriger, erzählt Neymar, wegen den harten Stopps aus vollem Lauf. Heute sind diese jähen Tempo- und Richtungswechsel eine seiner Spezialitäten. Als Kind spielte Neymar auf der Straße und in der Halle, ehe er elfjährig dem FC Santos beitrat. In der Meninos da Vila , der Jugendakademie des Vereins, avancierte er zu einem der größten Versprechen des Weltfußballs: technisch brillant, extrem schnell und torgefährlich. »Er kann besser werden als ich«, sagte Pelé, als Neymar gerade mal 18 war. Und: »Messi ist die Gegenwart, Neymar aber das Versprechen an die Zukunft.«
Der Name Pelé verfolgt Neymar wie ein Schatten. Nicht erst, seit ihn das TIME-Magazin als ersten brasilianischen Sportler auf das Cover hievte, verbunden mit dem Titel » The next Pelé «. Die Parallelen sind offensichtlich, zumal beide mit dem FC Santos für Furore sorgten. 1961 und 1962 gewann O’Rei mit dem Klub aus der Hafenstadt die Copa Libertadores , das südamerikanische Pendant zur Champions League. 48 Jahre mussten sich die Santistas in Geduld üben, ehe ihr Klub erneut den wichtigsten Pokal des südamerikanischen Fußballs in den Trophäenschrank im Stadion Vila Belmiro stellen durfte. Umjubelter Held der neuen Generation war Neymar, der Matchwinner im Endspiel, dessen Tricks und Zaubertore dank YouTube um die Welt gingen. Sein irres Dribbling gegen Flamengo wurde bei einer von der FIFA organisierten Abstimmung zum schönsten Tor des Jahres 2011 gekürt.
156 Tore erzielte Neymar in 256 Spielen für den FC Santos, dazu 27 Tore in 46 Spielen mit der Seleção – doch im Alter von 21 Jahren begann Südamerikas Fußballer der Jahre 2011 und 2012 zu stagnieren, wenn auch auf hohem Niveau. Mit dem FC Santos hatte er das Ende der Fahnenstange erreicht. Aus der 0:4-Niederlage im Endspiel um den Weltpokal gegen den FC Barcelona im Dezember 2011 zog er die Konsequenzen: Wollte er sich weiterentwickeln, dann war ein Wechsel in die Alte Welt unumgänglich. Aus dieser Erkenntnis heraus warf er seine Karriereplanung über den Haufen und schloss sich im Sommer 2013 dem spanischen Meister FC Barcelona an, der gerade in der Champions League gegen den FC Bayern sein Waterloo erlebt hatte. »Es war immer mein Traum, nach Barcelona zu gehen und mit Gottes Hilfe ist er wahr geworden«, sagte Neymar, als der Transfer unter Dach und Fach war. Nebst Gottes Hilfe trugen natürlich auch die 95,1 Millionen Euro, die den Besitzer wechselten, das ihre dazu bei, dass der Übertritt klappte.
An seiner neuen Wirkungsstätte überraschte Neymar alle. Die Katalanen, die einen Exzentriker erwartet hatten, staunten über die devote Art, mit der sich der neue Superstar ins Tiki-Taka-System einfügte. Die Brasilianer wiederum, deren Bedenken existenzieller Art waren, atmeten auf. Ob Neymar noch vor der WM nach Europa wechseln sollte, war jahrelang debattiert worden, und die Mehrheit neigte zu: besser nicht! Der schmächtige Bursche, unkten viele, werde abprallen an den harten Tacklings der Gegner und an der Ausnahmestellung des Monolithen Lionel Messi. Oder zumindest würde er ein gutes Jahr benötigen, um sich einzuleben. Zur WM würde dann ein hamletartiger, von Selbstzweifeln geplagter Spieler heimkehren, was angesichts seiner Bedeutung für die ansonsten überschaubar inspirierte Seleção gleichbedeutend wäre mit dem Ende aller Titelträume. Sie haben sich wohl umsonst gesorgt. Bereits Ende Oktober 2013 galt die Integration als abgeschlossen, als Neymar mit einem Treffer und einer Torvorlage wesentlichen Anteil am 2:1-Sieg gegen den Erzrivalen Real Madrid hatte. Für Barça-Kapitän Carlos Puyol war Neymars Auftritt im Clasico die »Meisterprüfung« schlechthin, während ihn die Tageszeitung Sport mit der Schlagzeile » El Rey Neymar « zum König von Barcelona krönte.
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