Der kleine Engel merkte, dass er sich langsam etwas in Rage redete. Außerdem, dachte er, das Abendland wird sicher nicht untergehen, wenn Schwule oder Lesben nicht nur gnädig so sein dürfen, wie sind, sondern das dann auch leben. Sie haben sich ja nicht ausgesucht, dass sie so sind, wie sie sind. Aljoscha konnte gut verstehen, dass sie dies nicht als Defizit sehen wollten oder als Kreuz, sondern als Geschenk, als Gabe Gottes. Wissen die Menschen eigentlich, was sie vielen von ihnen verdanken, zum Beispiel in Musik und Kunst? Die Lücken wären groß, dachte der kleine Engel, erinnerte sich an manche großen bekannten Namen, aber auch an die, die weniger im Rampenlicht standen oder mit viel Kraft diesen wichtigen Teil ihrer Persönlichkeit nach außen verbargen.
Aljoscha ließ seinen Blick über die Häuser der Stadt streifen und schwieg lange. Aber vielleicht ändert sich ja doch noch einiges, sagte er dann zu sich, und sein Blick hellte sich etwas auf, als er an die vorsichtige Bewegung dachte, die bei einem andern Streitthema, dem Problem „Geschieden-Wiederverheiratete“, zu erkennen war. Das immer wiederkehrende Thema Barmherzigkeit war keine Floskel in den Ansprachen des neuen Papstes. Mal sehen, was so alles passiert in der nächsten Zeit, dachte Aljoscha, und unterbrach seine nachdenklichen Gedanken, weil es nun wirklich Zeit war für einen Einsatz, der ja zu seinen eigentlichen Aufgaben gehörte. Aber das Nachdenken über diese und andere empfindliche Themen, und zwar differenzierend und barmherzig, war dem kleinen Engel einfach wichtig. Weniger für sich als mit Blick auf die Menschen.
Aljoscha beschloss, dies einigen Christen besonders ans Herz zu legen, auch und gerade denen, die in der Kirche wichtige Entscheidungen treffen durften. Und weil Engel sofort umsetzen, was sie für nötig halten, verließ er, nun besser gelaunt, seinen Aussichtsplatz hoch über den Dächern und fing sofort damit an.
Langsam müsste sie doch nervös werden, dachte Aljoscha, Gottes kleiner Lieblingsengel, und blätterte in einer Zeitschrift, die sich wieder einmal mit Queen Elisabeth II., der englischen Langzeit-Königin, beschäftigte. Erst musste diese die Rücktrittsankündigung der viel jüngeren niederländischen Amtskollegin zur Kenntnis nehmen – und jetzt auch noch der Papst. Der kleine Engel verspürte spitzbübische Lust, sich zu einem Kurzbesuch in den Buckingham Palace aufzumachen, doch für diesen unengelhaften Vorwitz bekam er sicher keine himmlische Starterlaubnis, und so ließ er diesen Gedanken schnell wieder fallen.
Es gab in diesen Tagen in der Tat Wichtigeres zu bedenken. Die Nachricht vom geplanten Rücktritt des betagten Papstes Benedikt XVI. hatte natürlich auch unter seinen Kollegen für Aufregung gesorgt, jedenfalls bei den unteren Chargen. Für die wichtigeren Engel und für „ganz oben“ war das Ereignis keine Überraschung. Wie sollte es auch. Lange schon hatte man die Gebete und das Ringen des Papstes um eine richtige Entscheidung erlebt und ihn sicher nicht damit allein gelassen. Was sich aber da im Tiefsten zwischen dem Allmächtigen und dem Nachfolger Petri ereignet hatte, das würde ein kleiner Engel wie Aljoscha nie erfahren. Das musste er auch nicht. Aber er ahnte, dass mit dieser Entscheidung etwas ganz Neues begonnen hatte. So etwas wie ein revolutionärer Schritt in der Geschichte und auch der Theologie des Papsttums, sagte Aljoscha zu sich selbst. Leise, denn diese Formulierung war ja doch etwas gewagt. Andererseits war es nichts Zufälliges, was sich da ereignet hatte, sondern ein bewusstes und historisch bedeutsames Überqueren einer Schwelle, die in neues Land führte.
Das ist mal wirklich Gottvertrauen, ohne doppelten Boden, dachte der kleine Engel und erinnerte sich an das Wort des damals neuen Papstes, das er in die unübersehbar große und bunte Menschenmenge bei seiner Amtseinführung am 24. April 2005 gerufen hatte: „Wir sind nicht das zufällige und sinnlose Produkt der Evolution. Jeder von uns ist Frucht eines Gedankens Gottes …“ Und bei Papst Benedikt hatte sich Gott sicher sehr viel gedacht und deswegen war dessen überraschender Mut bestimmt nicht nur die menschlich-verständliche Entscheidung eines rechtschaffen-müden, alt gewordenen Mannes. Das sicher auch, denn beide Zeugnisse, die seines päpstlichen Vorgängers, der sein Leiden nicht versteckt und es der Tod und Krankheit ausblendenden Gesellschaft entgegengehalten hatte, und Benedikts Eingeständnis der Schwäche, die ebenso nicht zum Power-Lifting unserer Zeit passte, sind ein bewegendes Zeichen, dass auch der „Heilige Vater“ nur ein Mensch ist. Gewiss, die Frucht eines besonderen Gedankens Gottes, gewiss, dachte der kleine Engel. Aber ein Mensch.
Und keck, wie er nun einmal war, stellte er sich vor, dass irgendwann einmal ein Titel des Papstes abgelegt werden würde, wie einst die Tiara. Als Meilenstein auf dem Weg zur Einheit der Christen. Nicht der „Pontifex“, denn „Brückenbauer“ passte doch in vielerlei Hinsicht hervorragend, aber „Stellvertreter Christi“! War dies nicht doch eine Nummer zu groß für dieses Amt? Und ein Anspruch, der jeden, selbst den heiligmäßigsten Nachfolger Petri, überfordern musste? Das fragte sich Aljoscha und war froh, dass er als kleiner Engel diese Fragen nicht beantworten musste.
Interessiert beobachtete Aljoscha, Gottes kleiner Lieblingsengel, die Vorbereitungen im ehemaligen Kirchenraum von St. Maximin. Normalerweise als Turnhalle genutzt, verwandelte sich dieser für das Silberne Priesterjubiläum des Bischofs in einen festlichen Saal. Als Gottesdienstraum wurde die ehemalige Trierer Abteikirche nur noch ganz selten genutzt.
Für einen Engel spielt Zeit keine Rolle, und so konnte sich Aljoscha noch gut an die großen Liturgien der Mönche erinnern. Aber das war aus Menschenperspektive lange, lange her. Die Zeiten hatten sich geändert, da wo früher gregorianischer Gesang zum Himmel stieg, war jetzt meist die Trillerpfeife von Sportlehrern zu hören oder der Schülerjubel nach einem gewonnenen Basketballturnier.
So ist es halt, dachte Aljoscha und wurde darüber nicht melancholisch. Im Gegenteil. Kirchenräume werden gebaut, niedergerissen, anderen Zwecken zugefügt, manche einfach verlassen, aber das Allerwichtigste, dem sie dienten, blieb über alle Jahrhunderte hinweg erhalten: der Glaube. Der kleine Engel wusste aber auch, wie weh es Menschen tun konnte, wenn sie erleben mussten, wie ihre Pfarrkirche, aus welchen Gründen auch immer, geschlossen werden musste. Aber wäre es nicht viel, viel schlimmer, wenn ihnen der Glaube selbst verloren ginge?
Aljoscha setzte sich unbemerkt an den Treppenaufstieg zum ehemaligen Chor und dachte an das Mühen der Christen, den Glauben weiterzugeben, buchstabiert in die heutige Zeit – ohne ihn zu verfälschen. Deswegen freute es den kleinen Engel immer wieder, wenn Kirchenleute hier am Ball blieben. Eine schöne Metapher in diesem versportlichten Kirchenraum, lächelte Aljoscha vergnügt und ließ seinen Blick in den geschichtsträchtigen Raum schweifen. Vielleicht würden hier ja bald Versammlungen der Trierer Bistumssynode stattfinden, die nach dem Wunsch des Bischofs wichtige Fragen besprechen und erwägen sollte. Dass es weiterging mit dem Glauben, war dem Engel aus seiner Perspektive völlig klar, aber wie, das war nun mal die Herausforderung, die es für die Menschen anzunehmen galt. Deswegen erbat Aljoscha für alle, die mitwirken würden, schon mal im Voraus eine kräftige Portion himmlischen Segens, damit sie, wie der Engel nachdenklich zu sich selbst sagte, die große Chance wirklich nutzen. Hellwach, leidenschaftlich und vor allem mutig.
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