Zur Metaphysik der Zeitverschwendung
Aus Mangel an Ruhe läuft unsere Zivilisation in eine neue Barbarei aus. Zu keiner Zeit haben die Tätigen, das heißt die Ruhelosen, mehr gegolten. Es gehört deshalb zu den notwendigen Korrekturen, welche man am Charakter der Menschheit vornehmen muss, das beschauliche Element in großem Maße zu verstärken. (Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches )
Julian Pörksen hat im Sommer 2011 einen kurzen Spielfilm gedreht, mit dem stutzig machenden Titel Sometimes we sit and think and sometimes we just sit . Der Film lief dann im Februar 2012 bei der Berlinale in der Sektion »Perspektive Deutsches Kino«. Damals war er noch Student der Dramaturgie an der Hochschule für Musik und Theater in Leipzig. Der Film war das Ergebnis eines selbst organisierten Praktikums im Rahmen des Studiums. Das kleine Buch mit dem Titel Verschwende deine Zeit ist eine überarbeitete Version seiner Abschlussarbeit vom Sommer 2012 und liefert sozusagen die Theorie zu diesem Film.
Das unvermeidbare Problem, dass auch ein Plädoyer für das Nichtstun, für die Ereignislosigkeit oder für die nutzlos verschwendete Zeit selbst viel Arbeit und Disziplin erfordert, wenn es überzeugen soll, war Pörksen von Anfang an klar und vielleicht ist das gerade der Witz des ganzen Unternehmens. In einem Programmheft zum Kirschgarten (in einer fast ereignislosen Inszenierung von Luk Perceval am Hamburger Thalia Theater) hat Pörksen über seine Filmarbeit berichtet und am Ende festgestellt: »Eine schöne Paradoxie an dieser Arbeit war, wie viel Planung und Aktivität notwendig war, um einen Untätigen ins Zentrum eines Films zu setzen, wie viel Anstrengungen es bedarf, um der Unterlassung künstlerisch etwas abzugewinnen und ihr im Bewusstsein des Zuschauers Raum zu verschaffen.« Pörksen berichtet dort auch, was ihn überhaupt dazu gebracht hat, sich dermaßen konzentriert und ausdauernd mit dem Thema Nichtstun und Nichtsnutzigkeit zu befassen:
Das Glück winkt denen, die aktiv sind. Freiwillige Untätigkeit hingegen ist mit einem Verbot belegt, sich für Ereignisarmut zu entscheiden, keine Option. Vergangenes Jahr habe ich mir im Theater ein Stück mit dem Schauspieler Peter René Lüdicke angesehen, der mit genau diesem Verbot gespielt hat, indem er eine virtuose halbe Stunde auf der Bühne nichts gemacht hat. Ein Unterlassungskünstler. Für ihn habe ich ein Drehbuch geschrieben, und wir haben gemeinsam einen Film gedreht, der um diese Gedanken kreist: Peter, ein 50-jähriger Mann, reich und aus intakter Familie, zieht in ein Altenheim, um dort für den Rest seiner Tage zu leben. Er ist ein ›freiwilliger Senior‹, der sich in eine Institution begeben hat, die in der öffentlichen Wahrnehmung so etwas wie eine vorletzte Ruhestätte ist, ein Ort zum Sterben, nicht zum Leben. Peter jedoch sitzt, heiter und unproduktiv, bei geschlossenen Vorhängen in seinem Zimmer und macht den ganzen Film über keinerlei Veränderung durch. Stattdessen delegiert er, als Held der Passivität, die Aufgabe einer dramatischen Entwicklung an die Nebenfiguren, die mit seiner Entscheidung und seinem Dasein hadern und sich an immer neuen Deutungen versuchen. Während der Arzt in seinem Verhalten Züge einer Depression zu erkennen glaubt und meint, ihm helfen zu müssen, sieht sein Pfleger in ihm ein Vorbild, einen Aussteiger aus der ermüdeten Gesellschaft. Sein Sohn hingegen sieht darin eine Flucht in die Untätigkeit, die letztendlich einem Suizidversuch gleichkommt, und will ihn retten, ihn zurückholen zur Familie. Eine alte Bewohnerin des Heims verliebt sich schließlich in seine mangelnde Anteilnahme, indem sie genau darin einen Freiraum erkennt, eine wertfreie Zone …
Zu ergänzen wäre vielleicht noch, dass der einzige zusätzliche »Luxus«, den sich der Held dieses Films mit in seine vorletzte Ruhestätte genommen hat, jene »Ultimate Machine« ist, die Pörksen in seinem Buch am Beginn des zweiten Kapitels beschreibt und die keine andere Funktion hat, als sich, wenn man sie einschaltet, sofort wieder auszuschalten. Dieser Vorgang ist grundlegend für die Metaphysik der Zeitverschwendung.
Ein nutzloser Film über das Nichtstun und die Dynamik, die dieses Nichtstun in seiner Umgebung erzeugt. Und jetzt ein kleines, klug kalkuliertes und solide gearbeitetes Buch über die Freuden der Zeitverschwendung und das Ignorieren ökonomischer Selbstverständlichkeiten. Die Lektüre macht Freude, zumindest mir, und lässt einen mit dem beglückenden Gefühl zurück, man wäre Zeuge eines überfälligen Befreiungsprozesses. Pörksen erlaubt sich ein paar einfache Wahrheiten auszusprechen, die immer noch tabuisiert sind, obwohl die meisten Menschen, wenn auch mit schlechtem Gewissen, zumindest gelegentlich danach handeln. Neu sind sie nicht, und es besteht wahrscheinlich auch keine Gefahr, dass sie eines Tages endgültig in Vergessenheit geraten. Aber sie passen als positive Maximen nicht in die Logik der politischen Ökonomie der kreativen Marktgesellschaft, in der rationales Nützlichkeits- und Vorteilsdenken respektive der Privategoismus die Triebfedern allen Handelns sein sollen.
Zeit und Geld sind in dieser Markt- und Leistungsgesellschaft bekanntlich Synonyme, beides darf man nicht verschwenden. Denn an der Zeit bemisst sich die Rationalität jeder ökonomischen Praxis. Die in Relation zum Ergebnis aufgewendete Zeit gibt Aufschluss darüber, ob eine Tätigkeit sinnvoll ist oder nicht. Sie ist nach ökonomischer Auffassung natürlich nur sinnvoll, wenn sie sich rechnet, wenn nicht sofort, dann wenigstens später. Julian Pörksen macht diese scheinbar selbstverständliche Rechnung nicht mit. Er macht die Gegenrechnung auf und versucht, die Notwendigkeit der anderen, dunklen Seite der Ökonomie, die jeder instrumentellen und zweckgerichteten Tätigkeit widersteht, zu erklären. Diese Seite gibt es als negative, als zu überwindende natürlich schon immer, denn wenn es keinen Hang zur Nichtrationalität, zur Verschwendung, zum Exzess und zum Asozialen gäbe, würde jedes zweckmäßige Handeln, jede Selbstdisziplinierung überflüssig sein und ins Leere zielen. Das heißt: All diese schönen Tugenden wie Disziplin, Selbstbestimmung, Optimierung sind nur solange sinnvoll postulierbar, wie es entgegengesetzte Tendenzen gibt, die eingedämmt und in Schach gehalten werden müssen. Wenn Disziplinlosigkeit und Lethargie endgültig abgeschafft wären, wären im selben Augenblick auch ihre Gegenbegriffe sinnlos geworden.
Aber in dem Diskurs, in dem Pörksen sich bewegt, geht es nicht primär um diese Wechselbegrifflichkeit, sondern um eine irritierende Umwertung des Nutzlosen. Die normalerweise nur kritisch gebrauchten Termini werden positiv gewendet. Zeitverschwendung soll nun etwas Wichtiges und Gutes sein. Das erinnert an Kants ästhetische Urteilskraft: Das »interesselose Wohlgefallen« am Schönen, also die Freude an etwas, das für nichts zu gebrauchen ist – eine Freude, die Kant allein der ästhetischen Betrachtung vorbehält. Auch Schiller hat dem »ästhetischen Bildungstrieb«, der uns »von allem, was Zwang heißt, sowohl im Physischen als im Moralischen entbindet«, ein eigenes »fröhliches Reich« zugewiesen, in dem er sich spielerisch jenseits aller Zwecke äußern darf, solange er den Scheincharakter seines Tuns nicht leugnet. Für Pörksen sind Zeitverschwendung, Nutzlosigkeit und Nichtstun jedoch nicht nur ästhetische, sondern auch im täglichen Leben wünschenswerte Positionen.
Ästhetische Positionen außerhalb der Kunst geltend zu machen, gilt aber grundsätzlich als suspekt. Einer der Ersten, die das erfahren mussten, war Dostojewski, der mit der sogenannten Zweckrationalität der politischen Ökonomie explizit auf Kriegsfuß stand und den »Unsinn« dagegensetzte. In den Aufzeichnungen aus dem Kellerloch beschrieb er die Mechanik einer ständigen Vervollkommnung der Menschheit durch konsequenten Vernunftgebrauch als abstoßend und anrüchig. Für den Mann im Kellerloch war die Vorstellung ein Alptraum, alles menschliche Verhalten ließe sich durch rationale Höherentwicklung zwingend und gültig festlegen. Der eigene Vorteil als unbestreitbare Richtschnur allen Handelns erschien ihm als Sackgasse, das Handeln im »wohlverstandenen Eigeninteresse« und die Maxime, sich selbst niemals zu schaden, fand er empirisch falsch und unmenschlich. Solche Maximen hätten langfristig das Ende jeder Art von Überraschung und Unberechenbarkeit zur Folge, also gerade dessen, was menschliche Lebewesen im Unterschied zu Maschinen ausmache. Durch das ökonomische Vorteilsdenken würden die Menschen zu »Drehorgelstiften«, die nichts anderes tun, als zu funktionieren. Es gäbe keine Wahlmöglichkeiten mehr und keine Freiheit, wenn im Fortschreiten der Vernunft ein für alle Mal geklärt würde, was in jeder denkbaren Situation das Vorteilhafteste für uns wäre. Dostojewski war vor 150 Jahren wahrscheinlich einer der Ersten, die diese logische Kehrseite des rationalen Vorteilsdenkens, des planenden Kalküls, beschrieben haben. Er zog dann sozusagen die Notbremse, indem er den größten Vorteil ausgerechnet in der Nicht-Rationalität, im Ignorieren des Kalküls, im Unsinn zu finden meinte:
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