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Eli Sagan glaubt in seinem Standardwerk Tyrannei und Herrschaft herausgefunden zu haben, dass es einige privilegierte Menschen gab, bei denen es anders lief – Menschen, die die glückliche Allmachtsphase nie verlassen mussten, weil sie ihr Leben lang wie ein Kleinkind behandelt wurden. Sie wurden nicht unsanft herausgerissen aus diesem Zustand, sondern immer weiter darin bestärkt, sie seien alles und die Welt sei nichts ohne sie, während die gegenläufige Erfahrung, dass die Welt alles und sie selber nichts sind, sich außerhalb ihres Horizonts befand. Die Könige in sogenannten komplexen Stammesgesellschaften, die den archaischen Sippenverbänden folgten, werden in Sagans Untersuchung als Personen dargestellt, die in der Allmachtsphase stecken geblieben sind oder festgehalten werden, und die sich mit Zustimmung ihrer Umwelt alles erlauben dürfen, genau wie das Kleinkind auf dem Höhepunkt seines Narzissmus – und zwar mit der Gewissheit, dass ihnen das nicht nur erlaubt ist, sondern sogar von ihnen erwartet wird. Alles ist für sie da, sie dürfen rücksichtslos und unbefangen alle subjektiven Wahrheiten aussprechen, ihre Mitmenschen quälen und beleidigen, sie brauchen nur mit dem Finger zu schnipsen und jeder ihrer Wünsche wird erfüllt, sie dürfen mit jedem Menschen schlafen, wenn ihnen danach ist, sogar mit der eigenen Schwester (nur mit der Mutter nicht). Das Wichtigste ist in den Augen ihres Volkes, dass sie töten dürfen, wen sie wollen und wann sie wollen. »Er allein hat das Recht, uns die Augen auszustechen«, erklären die Anhänger des Königs dem Forscher. Und wenn ein König nicht mehr tötet, machen sich seine Untertanen Sorgen …
Für Sagan gibt es »zwei Indizien, die darauf hindeuten, dass der Drang nach Allmacht in der frühen Kindheit entstanden ist: Man verwöhnte diese Könige unmäßig und erlaubte ihnen die zügellosesten Wutanfälle«. Und das setzte sich im erwachsenen Leben der Könige fort.
Zum königlichen Hofstaat gehörten zahlreiche persönliche Diener des Königs, die streng auf die Befriedigung auch der kleinsten seiner Bedürfnisse achteten. Die Nahrung des Königs, der Tabak des Königs, die Milch des Königs, der Nachttopf des Königs, der Speer des Königs – für alle diese Utensilien sorgte ein besonders beauftragter Beamter. Manche Könige wurden sogar im Schlaf überwacht; anderen war es nicht erlaubt, selbst zu essen; sie mussten von Dienern gefüttert werden. […] Auch in sexuellen Dingen musste der König sich – anders als Erwachsene – nicht übermäßig anstrengen, um seine Bedürfnisse zu befriedigen. Er brauchte nur einen kleinen Finger zu heben und zu verkünden »Ich will«.
Sagan identifiziert dieses Phänomen mit der »Phantasie des Kleinkindes von der uneingeschränkt nachgiebigen Mutter« und ergänzt: »Die Wutausbrüche des einundzwanzig Monate alten Kleinkinds waren für die Könige der komplexen Gesellschaft ein Gebot strenger Etikette. Wenn du nicht bekommst, was du haben willst, dann schlage wild um dich.« Sagan zeigt aber nicht nur, dass die angehenden Könige auf ihr Amt vorbereitet wurden, indem man sie im Sozialisationsprozess nicht aus der Allmachtsphase entließ, sondern auch, dass sie die Sehnsucht derer verkörpern, die diese Zeit der glücklichen Allmacht schon lange hinter sich haben. »Ein großer Teil der himmelschreienden, sadistischen Grausamkeiten in komplexen Gesellschaften war das Ergebnis der Tatsache, dass es dem König nicht nur erlaubt war, Wutausbrüche zu haben, sondern dass man dies sogar von ihm erwartete.« Vom Volk unterstützt war es ihm also aufgegeben, seine Macht fortwährend im höchsten Maße zu missbrauchen. Solche allmächtigen Könige, die nur solange gute Herrscher waren, wie sie sich asozial und gewalttätig verhielten, und die in den Teppich bissen, wenn sie ihren Willen nicht bekamen, sind heute offenbar – bis auf wenige Ausnahmen, die sich möglicherweise in Nordkorea und in den USA als Karikaturen finden lassen – ausgestorben. An ihre Stelle sind kultivierte Sozialbürokraten getreten, die sich im Rahmen strenger Etikette zur Höflichkeit und Tugend verpflichtet fühlen. Jeden irrationalen Eigenwillen versuchen sie zu unterdrücken, sie leben solche etwaigen Seiten nicht öffentlich, sondern höchstens privat und im Geheimen aus. Es gibt in unserer Gesellschaft niemanden mehr, der unsere Sehnsucht nach der »schönsten Zeit« stellvertretend für uns ausleben könnte. Und es gibt für Menschen, bei denen die Überwindung der Allmachtsphase nicht geglückt ist – weil Elternteile zum Beispiel ihrerseits in der Symbiose mit dem Kind stecken blieben –, keinen Ort, wo sie ihre tyrannischen und narzisstischen Tendenzen nutzbringend einsetzen könnten. Denn selbst die größten Chefs und die reichsten Milliardäre müssen sich an die Gesetze und sozialen Konventionen halten und dürfen niemals öffentlich demonstrieren, dass sie über ihnen stehen.
Mit dem Ende der allmächtigen Herrscher scheint der Traum von der Allmacht ausgeträumt – in Europa spätestens mit der Französischen Revolution. Die Enthauptung Ludwigs XVI. im Januar 1793 markiert drastisch das Ende der verlängerten Allmachtsphase als Herrschaftsform. Die nachfolgenden Diktatoren und Alleinherrscher widerlegen das nicht, sondern bestätigen es eher, denn sie können sich nicht mehr auf ihre Gottgleichheit berufen, sondern müssen ihre Herrschaft mittels großer Ideale legitimieren, die beispielsweise nationalistisch oder sozialistisch (oder beides) sein können. Die Anfälligkeit der Menschen für totalitäre Herrschaft ist deshalb allerdings keineswegs aus der Welt – und die Trauer über den Verlust der Allmacht offenbar immer noch nicht überwunden. Vielleicht ist ein Ende der Trauer auch gar nicht möglich, solange die Menschen ihre schönste Zeit zwischen dem ersten und zweiten Lebensjahr verbringen.
Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die Aufwertung, die das Ästhetische und die Kunst nach dem Ende des absoluten Königtums erfahren haben. Vielleicht ist es kein Zufall, dass Friedrich Schiller 1795, also zwei Jahre nach dem Tod des Königs auf der Guillotine, in seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen den Versuch gemacht hat, den Traum von der Allmacht zu retten, und zwar in der Kunst und durch die Kunst, die nach der Revolution und im Zuge der Aufklärung nicht mehr als Repräsentation von weltlicher und göttlicher Macht betrachtet wurde, sondern, wie es bei Schiller heißt, als »eine Tochter der Freiheit«. Mitten in der Welt der physischen Zwänge, die wir nicht beseitigen können, und der menschlichen Gesetze, die wir uns zwar selbst gegeben haben, die uns aber ebenfalls streng beschränken, forderte er ein »drittes, fröhliches Reich«, das der »ästhetische Bildungstrieb«, den er gerne auch »Spieltrieb« nannte, hervorbringen sollte, ein Reich, in dem den Menschen »die Fesseln aller Verhältnisse« abgenommen und sie »von allem, was Zwang heißt, sowohl im Physischen als im Moralischen« entbunden sind. Das klingt nach Allmachtsanspruch und nicht nach der »moralischen Anstalt«, die man mit Schiller gerne verbindet. Schiller fordert eine Freiheit für die Kunst, die sich durch nichts beschränken lassen muss. Dieser Gedanke ist bis heute entscheidend für die Kunstpraxis geblieben: »Kunst zu machen bedeutet zu verfügen, dass die Dinge so und nicht anders sein sollen – und zwar ohne jede ›objektive‹ Begründung«, schreibt Boris Groys in seinem Kommunistischen Postskriptum . Was Schiller wie Groys für die Kunst einfordert, scheint exakt »dem traumhaften, poetischen Lebensgefühl, dem keinerlei Grenzen und Restriktionen gesetzt waren«, zu entsprechen, das Sagan bei den frühen Königen gefunden hat – allerdings mit einem wichtigen Unterschied.
Wollte Schiller den allmächtigen Herrscher mittels Kunstpraxis wieder einführen? Haben Hitler und Stalin Schiller so verstanden? Der Staat als Kunstwerk? Ist Schiller der Vorläufer und Ideengeber für die totalitären Verhängnisse des letzten Jahrhunderts? Es gibt Leute, die seine Briefe tatsächlich so verstehen wollen (zum Beispiel Paul de Man). Dazu muss man den Staat nur als Kunstwerk und den oder die Herrschenden als Künstler betrachten. Aber einen solchen Ansatz zur Legitimation von totalitärer Herrschaft gibt es in Schillers Vorstoß zu einer freien Kunst gerade nicht (und bei Groys auch nicht). Denn in demselben Brief, dem 27. und letzten, in dem Schiller diese Freiheit von allen physischen und moralischen Zwängen, von der Schwerkraft und von jeder allgemeinen Gesetzgebung fordert, macht er auch klar, dass dieses Reich der Kunst das Physische und das Sittliche nicht vereinigen oder ersetzen kann und soll. Die Auflösung des Widerspruchs und die totale Freiheit sollen nur als ästhetische stattfinden, und zwar in einer Schein- und Spielwelt, die von den Künstlern und den Rezipienten auch als solche wahrgenommen wird. Das ist der Unterschied zur Allmacht der Könige.
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