1 ...7 8 9 11 12 13 ...22 Den Staat im Großen, als das umfassende System, kann man aber nicht so ohne Weiteres verlassen, wenn er einem nicht mehr gefällt. Außer der kompletten Isolation, und die ist für Menschen nicht geeignet, findet sich auf der ganzen Welt keine Alternative zum Staat. Man findet nur unterschiedliche Staatsformen, aber keine entgeht dem Hölderlinschen Räderwerk-Verdikt, nicht mal die Demokratie. Und die Welt, wenn sie einem nicht mehr gefällt, kann man bei lebendigem Leibe überhaupt nicht verlassen. Insofern ist sie das ausbruchsicherste Gefängnis überhaupt. Das Recht auf Flucht, das die Volksbühne als frei produzierende Zwangsgemeinschaft überhaupt erst möglich gemacht hat, müsste eigentlich jeder Staat per Verfassung dekretieren, nur so wäre die Freiwilligkeit der Staatsangehörigkeit garantiert. Dieses Recht ist aber schwer zu realisieren, weil man nicht weiß, wohin man fliehen soll. Aus einem Staat kann man nur in einen anderen Staat fliehen, während man aus dem Theater fliehen kann, ohne zwangsläufig in einem anderen Theater zu landen. Das ist der Unterschied. Und deshalb kann man den Castorf-Staat nicht zum allgemeinen Modell machen. Es sei denn, man nähme das Theater als Heterotopie wirklich ernst, als einen Ort jenseits der staatlichen Ordnung, als einen Ort, an den man dem Staat entfliehen kann. Das »Recht auf Flucht«, das Alexander Karschnia im Geiste von Schlingensiefs Chance 2000 gerne in die Verfassung aufnehmen würde, ließe sich dann als Recht auf Flucht in das Theater (oder die Kunst) konkretisieren. Wer den Staat nicht aushält, flüchtet in die Kunst, und wer die Härten der Kunst nicht aushält, flüchtet aus der Kunst in den Staat. Das wäre eine glorreiche Perspektive, die auf einen Schlag die Alternativlosigkeit, die unser politisches Handeln seit einigen Jahrzehnten lähmt, in einen spannungsvollen und dynamischen Prozess verwandeln könnte. Man könnte nicht nur aus dem Theater flüchten, sondern auch ins Theater. Diese Möglichkeit des »Switchens« zwischen Kunst und Demokratie käme der tragischen menschlichen Verfasstheit, die sich in der Spannung zwischen Realität und Traum bewegt, sehr entgegen. Slavoj Žižek hat diese Spannung mit der ihm eigenen Konsequenz schon vor Jahren auf den Punkt gebracht (in seinem Buch Ärger im Paradies – Vom Ende der Geschichte zum Ende des Kapitalismus ):
Wir flüchten uns in die Träume, um einen Zusammenbruch im wirklichen Leben zu vermeiden, aber dann ist das, was uns im Traum begegnet, noch schlimmer, sodass wir am Ende buchstäblich aus dem Traum zurück in die Realität entkommen. Es fängt damit an, dass Träume für die Leute da sind, die für die Realität nicht stark genug sind, es endet damit, dass die Realität für die existiert, die ihre Träume nicht aushalten.
Anhang:
Flucht in den Baumstamm
»In unserer Gesellschaft riskiert jeder, der bei der Beerdigung seiner Mutter nicht weint, die Todesstrafe.« Dieser Satz ist für Camus die Quintessenz seines Romans Der Fremde . Und auch wenn zumindest hierzulande die Todesstrafe einstweilen abgeschafft und der Verhaltenskodex bei Beerdigungen naher Familienangehöriger liberaler geworden ist, haben Gedanken wie dieser nichts von ihrer beunruhigenden Wirkung verloren. Camus vergleicht seinen Antihelden Meursault mit Jesus. Und er behauptet, Meursault sterbe wie Jesus für die Wahrheit. Der Welt der verlogenen Konventionen setze er das nicht immer erfreuliche, aber wahrhaftige Bild eines Menschen entgegen, der seinen Impulsen folgt. Und Dinge sagt, die man zwar vielleicht denken mag, aber nicht aussprechen sollte: »Alle vernünftigen Menschen haben mehr oder weniger den Tod derer gewünscht, die sie liebten.« Heute erscheint dieser vermeintliche Wahrheitsrigorismus des amoralischen Individuums selbst schon wieder als Konvention, als »Style«, der zur Schau getragen wird, wenn man genug davon hat, angepasste und berechenbare Standardspiele zu spielen. Deshalb liegt der Reiz des Romans heute eher in den Lebensstrategien, die er offeriert, als in der Suche nach Wahrheit. Die existentielle Frage lautet: Wie kann ich auch gegenüber dem Schlimmsten, was mir zustoßen könnte, einen klaren Kopf bewahren und die gute Laune nicht verlieren? Meursault sagt sich: »Wenn man mich in einem verdorrten Baumstamm leben lassen würde, mit keiner anderen Beschäftigung, als die Oberfläche des Himmels über meinem Kopf anzusehen, würde ich mich allmählich daran gewöhnen.« Am Ende ist er so weit, dass er selbst die Aussicht auf seine Hinrichtung vor einem Publikum, das ihn »mit Schreien von Hass« empfängt, als Glück genießen kann. In der Tat: Wer seine eigene Hinrichtung als Glück empfindet, dem kann nichts Schlimmes mehr passieren. Und sein Autor bekommt den Nobelpreis. Da wir alle zum Tode verurteilt sind, selbst wenn wir nichts Böses getan haben, ist es vielleicht für niemanden ein Fehler schon mal zu üben, wie man damit umgeht, wenn eines Tages alle Gnadengesuche abgelehnt sind.
Die schönste Zeit im Leben
»Allmacht« ist ein zu blasses Wort, um dem Ideal des Königtums voll gerecht zu werden. Es vermittelt nicht genug von dem traumhaften, poetischen Lebensgefühl, dem keinerlei Grenzen und Restriktionen gesetzt waren, von dem Bewusstsein in einer Welt zu leben, in der es keine Gesetze der Moral oder gegen Inzest gab, nicht einmal ein Schwerkraftgesetz, in der zwischen Wunsch und Tat kein Schatten bestand, in der es keine Mäßigung und kein Maß gab, kein »Realitätsprinzip«, eine Welt, in der der eigene Wunsch für jeden anderen Befehl ist und in der man sich über die Realität erheben kann. Alle Frauen der Welt – mit einer einzigen Ausnahme – sind Freiwild für den sexuellen Appetit, ein Kopfnicken und jeder andere muss sterben. Nichts ist verboten. Den heftigsten Wutausbrüchen folgen freigebige Beweise der Großzügigkeit.
(Eli Sagan, Tyrannei und Herrschaft )
Was ist die schönste Zeit im Leben eines Menschen? Margaret Mahler, eine der Begründerinnen der psychoanalytischen Entwicklungstheorie, behauptet, dass diese schönste Zeit schon sehr früh beginnt, ungefähr im zehnten Lebensmonat, und spätestens nach acht Monaten schon wieder unwiederbringlich vorbei ist. »Während dieser kostbaren 6 bis 8 Monate«, berichtet Mahler, »gehört dem Kleinkind die Welt, […] und das Kind scheint von seinen Fähigkeiten und der Größe seiner Welt wie berauscht.« In dieser kurzen »Allmachtsphase« wird dem Kind noch jeder Wunsch erfüllt, es braucht nur zu schreien. So kann es gar nicht anders, als sich wie der Mittelpunkt der Welt vorzukommen. Leider oder auch Gott sei Dank kann diese Phase vermeintlicher Allmacht nur von kurzer Dauer sein. Noch vor dem Ende des zweiten Lebensjahres muss das Kleinkind erkennen, dass es nur ein Wesen unter vielen anderen ist, dass andere Leute auch Wünsche haben und dass es im Vergleich zu anderen, auch und gerade zu seinen Eltern, eine sehr schwache und hilflose Existenz ist. Kaum hat es sich in seiner Allmacht eingerichtet, ist es auch schon wieder vorbei mit ihr, und es beginnt die Disziplinierung, das schmerzhafte Lernen von Ein- und Unterordnung. Die schreckliche Erfahrung, dass es eben nicht allmächtig, sondern ohnmächtig ist, können dem Kind auch die liebevollsten Eltern nicht ersparen. Der ganze Sozialisationsprozess ist Einübung in diese Ohnmacht, Anpassung an ein übergeordnetes System, an ein Leben in der Beschränkung unter der Fuchtel jener, die die Macht haben. Dieser Verlust der Allmacht in der frühen Kindheit bleibt, zumindest in Mahlers Erzählung, als lebenslanges Trauma bestehen, als vage Erinnerung an eine Zeit umfassender und radikaler Bedürfnisbefriedigung ohne Triebaufschub, als Sehnsucht nach einer Zeit, in der man jeden Morgen begeistert und sorglos aufwachte, an die Zeit, bevor sich das Omnipotenzgefühl in Angst verwandelte und das Kind in der Wiederannäherungsphase oder -krise seine Abhängigkeit und Ausgeliefertheit gegenüber seinen Bezugspersonen begreift.
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