Die Liebe, nach der wir uns sehnen, ist unvernünftig. Und Unvernunft gefährdet den Markt. Der berühmte Autovermieter und Erfolgsunternehmer Sixt verkündete neulich: »Die oberste Vorraussetzung unserer Wirtschaftsordnung ist, dass die Beteiligten immer rational handeln. Wir wissen alle, dass das nicht stimmt.« Das heißt, die Rationalität des Marktes, das, was Konkurrenz überhaupt erst ermöglicht, dass alle Marktteilnehmer rational auf ihren Vorteil aus sind, lässt sich empirisch nicht bestätigen. Es gibt offenbar viele Handlungsmotive, die nicht marktmäßig kalkulierbar sind.
Dostojewski war vor 150 Jahren wahrscheinlich einer der Ersten, die dieses Leck im rationalen Vorteilsdenken gesehen haben. In seinem Roman Aufzeichnungen aus dem Kellerloch lesen wir etwas, das wie ein Kommentar zu der Einsicht von Sixt klingt:
Nach unserem eigenen, uneingeschränkten und freien Wollen, nach unserer allerausgefallensten Laune zu leben, die zuweilen bis zur Verrücktheit verschroben sein mag? Das, gerade das ist ja jener übersehene allervorteilhafteste Vorteil, der sich nicht klassifizieren lässt, und durch den alle Systeme und ökonomischen Theorien fortwährend zum Teufel gehen.
Dostojewski erlaubt sich in diesem Text, den größten Vorteil ausgerechnet in der Vorteilsablehnung, in der Nicht-Rationalität, im Ignorieren des Kalküls zu finden.
Jemanden nicht zu heiraten, nur weil er eine Erbschaft gemacht hat, jemandem alles zu geben, was man hat, ohne jegliche Gegenleistung: solche Verhaltensweisen – es gibt sie nicht nur bei Dostojewski – sind unter ökonomischen Gesichtspunkten nicht mehr zu fassen. Und hier wird auch der Widerspruch deutlich, der die Ausgangsfrage von René Pollesch charakterisiert. Liebe echt und bezahlt? Wenn sie bezahlt ist, folgt sie einem Kalkül, ist also von etwas anderem abhängig als ihr selbst, wird instrumentalisiert und damit entwertet. Wenn sie aber außerhalb des Kalküls liegt, widerspricht sie den obersten Voraussetzungen unserer Wirtschaftsordnung und ist nach deren Maßstäben ein gefährlicher Unsinn (Wie kann ein vernünftiger Mensch Julia zustimmen, wenn sie sinngemäß sagt: »Je mehr ich ausgebe, je mehr hab ich im Portemonnaie«?). Liebe auf dem Markt zu kaufen scheitert genauso wie Liebe, die sich jenseits des Marktes verwirklichen will. Die marktkompatible Liebe ist unecht. Die reine Liebe jenseits des Marktes tritt ihre eigenen Überlebensbedingungen mit Füßen. Vielleicht enden deshalb Liebesgeschichten zumindest im Theater gerne tödlich. Man kann nicht sagen, dass wir bis heute eine überzeugende Lösung für dieses Dilemma gefunden hätten. Wer kalkuliert, lebt länger, aber er kann und darf nicht lieben, wenn er konsequent ist. Und ein Leben ohne Liebe ist vielleicht kein Leben. Wer nicht kalkuliert, kann sich zwar, wenn er Glück hat, auf eine wahre Liebe einlassen, aber er gefährdet sein Leben. Wer beides gleichzeitig versucht, landet wieder bei Polleschs Frage: Kann Liebe echt sein und gleichzeitig bezahlt?
Die slowenischen Joseph-Beuys-Schüler von der Rockgruppe Laibach zogen auf ihrer CD Kapital folgende Konsequenz aus diesem Dilemma: »Der Jäger, der zwei Hasen jagt, verfehlt beide. Wenn du schon scheitern musst, scheitere glanzvoll: Jage zwei Tiger!« Das klingt verblüffend: Wir lösen den Widerspruch nicht auf, wir lassen ihn stehen und steigern ihn ins Extrem. Wir müssten ein Höchstmaß an Kalkül mit einem Höchstmaß an Nicht-Kalkül konfrontieren. Unternehmerisch denken und gleichzeitig in Liebesdingen die Bereitschaft entwickeln, jedes Kalkül über den Haufen zu schmeißen. Dann wäre durch die Extreme hindurch vielleicht so etwas wie ein Ausgleich möglich, der nicht bloß ein fauler Kompromiss ist. Der gewissenhafte Unternehmer, der rational handelt, aber für die Liebe jedes Geschäftsinteresse sausen lässt, wäre das ein Beispiel für ein gelingendes Liebesleben? Dieses wackelige Konzept, das doppeltes Scheitern zur Tugend macht, scheitert aber möglicherweise zusätzlich auch an der Ungewissheit, die der unter solchen Bedingungen Geliebte in uns auslöst. Denn ob auch er zwei Tiger jagt und ob wir für ihn bei seinen Bestrebungen der »Kalkültiger« oder der »Liebestiger« sind, lässt sich grundsätzlich nicht mit Sicherheit klären.
René Pollesch versucht in seinen gegenwärtigen Arbeiten, die Enttäuschung, dass Liebe Zwecke verfolgt und instrumentalisiert wird, probeweise zu verarbeiten durch Reinvestition in den Markt, durch Bejahung der Käuflichkeit der Liebe. Mit folgendem Argument: Auch wenn meine Liebe bezahlt ist, kann ich in dieser Scheinliebe zumindest etwas von dem erfahren, was Liebe sein könnte, wenn sie nicht bezahlt wäre. Es muss nur gut gespielt sein. Auch das bloß Vorgespielte, Unechte hat seinen Wert. Das Theater lebt schließlich nicht schlecht vom ästhetischen Schein und vielleicht kann große Nähe und große Zuneigung auch dann angenehm sein, wenn ihr durch finanzielle Gegenleistung nachgeholfen wurde. Es gibt Leute, die sagen, dass Liebe gar nicht anders möglich ist als unter diesem Vorbehalt. Dass das Echte sich sozusagen im Unechten verstecken oder tarnen muss. Hinzu kommt die Vermutung, dass das Geld selbst es ist, das verliebt macht, das eine erotische Qualität besitzt, die über das mit ihm verbundene Kalkül hinausweist. Das behauptete zum Beispiel Andy Warhol, für den Geld explizit zu den Dingen gehörte, die verliebt machen, oder die Pet Shop Boys: »I love you, you pay my rent.« Wir müssten also möglicherweise, wenn wir in Zeiten der Globalisierung unseres Innenlebens so etwas wie Liebe haben wollen, die gelogene Liebe annehmen. Denn wenn wir an die gelogene Liebe glauben, obwohl sie gelogen ist, dann hat sie vielleicht psychische und körperliche Effekte, die fast identisch sind mit denen der echten Liebe, die unter diesen Bedingungen unlebbar und unerreichbar ist. Das führt zu der Frage, ob eine schöne, aber gelogene Liebesbeziehung besser ist als eine echte, aber beschissene. Dahinter steckt die Vermutung, dass in unserer Gesellschaft vielleicht nur aus Berechnung Hingabe und große Liebe möglich werden, dass ohne Berechnung einfach keiner den Willen und den Mut aufbringen würde, große Gefühle zu riskieren. Das würde heißen, dass es Mischformen sind, die wir leben, dass Zweifel dazugehört und dass wir uns angewöhnen müssen, auch Lügen zu glauben. Das gehört zum Spiel und könnte auch gesünder sein als eine radikale, aber illusionäre Liebesvorstellung. Die amerikanische Sängerin Sheryl Crow (ich habe das Gefühl, sie ist nicht die Einzige) kann das anscheinend. In einem ihrer Songs heißt es: »Lie to me, I promise, I’ll believe.«
Vielleicht kann man das Gefühl, das mit echter Liebe verbunden ist, also kaufen. Darüber, wie echt sie wirklich ist, braucht man sich als nicht kalkulierender Liebender nicht den Kopf zu zerbrechen. Und tiefe Gefühle, die überhaupt nicht gefälscht sind, sind für uns schwache Menschen womöglich sowieso viel zu gefährlich. Dies ist keine befriedigende, aber, wie ich fürchte, eine weit verbreitete Lösung in Zeiten intensiver Totalisierung der Märkte.
Es gibt noch eine andere Vorstellung, nach der Liebe nicht an Wahrheit gebunden ist und gerade auch echte Liebe Lügen nicht ausschließt, weil Liebe stärker ist als Wahrheit. Niemand anders als Shakespeare behauptet, dass »Scheinvertraun« das Beste sei, was einem in der Liebe passieren kann. Diese These entfaltet er im Sonett 138. Was hätte Julia dazu gesagt?
Wenn sie mir schwört, sie sei die Wahrheit selbst,
So glaub ich ihr, obgleich ich weiß, sie lügt,
Damit sie in mir einen grünen Jungen sieht,
Der mit der Welt Finessen nicht vertraut.
Indem ich wähn’, dass sie für jung mich hält,
Wiewohl sie weiß, was hinter mir schon liegt,
Glaub’ einfach ihrer falschen Zunge ich:
So leidet schlichte Wahrheit beiderseits.
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