Was Schiller vorschwebt, könnte man als Musterbeispiel für eine Heterotopie ansehen, wie sie Foucault später beschrieben hat: als abgeschlossenen Ort, der zwar ein Teil der Welt ist, an dem aber all das erlaubt und möglich ist, was in der Welt sonst verboten und unmöglich ist, also als einen Ort, wo dieses sonst Verbotene oder Unmögliche sich autonom entfalten kann. Die Autonomie der Kunst ist auf diesen Ort beschränkt, nur dort kann sie sich als »Spiel« realisieren – in einer Sphäre des »ästhetischen Scheins«. Sie darf sich nicht mit der wirklichen oder wirkenden Welt verwechseln oder mit ihr verwechselt werden. Das Verbotene wird nur gespielt, die Allmacht der Künstler ist nur ästhetischer Schein, und alle, die daran teilnehmen, der Stab und die Schauspieler, aber auch die Zuschauer, wissen wie Schiller, dass das Menschenleben beschränkt und ohnmächtig ist und dass wir, solange wir leben, keine ganzen Menschen sein werden. Wenn Schiller also behauptet, »der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt«, dann heißt das, dass es die vollständige Realisierung seines Wesens in der wirklichen physischen Welt sterblicher Menschen nicht geben kann, sondern nur im Spiel, nur als ästhetisches Ereignis. Das ist die Tragik der Kunst und speziell des Theaters, seine offensiv vertretene Nutzlosigkeit und Zweckfreiheit haben hier ihren Grund. Nichts, was auf der Bühne passiert, nichts, was ein Künstler als Kunst generiert, greift funktional in die Prozesse des täglichen Lebens ein. Schiller wird nicht müde zu betonen, dass der ästhetische Schein in der wirklichen Welt nichts zu suchen hat und dass die wirkliche Welt als Funktionssystem nichts in der Kunst zu suchen hat. Die ästhetischen Freiheiten des schönen Scheins zum politischen Programm zu erklären, um die Welt nach ästhetischen Kategorien zu perfektionieren, ist kein Weg zur Befreiung, sondern markiert den Beginn totalitärer Gewalt.
Gerade im Theater herrscht deshalb ein verschärftes Gewaltverbot. Weil man sich im Spiel auf menschliche Abgründe, auf ungebändigte Natur, auf unwahrscheinliche Sensationen einlässt und das, was einem sonst einfach passiert, autonom produziert, bedarf es großer Sachlichkeit und Nüchternheit bei der Herstellung dieser Kunstwerke. Gewaltexzesse und Psychoterror, Intimität und Verrat auf die Bühne zu bringen, ist leichter, wenn außerhalb der Bühne und bei der Herstellung des Kunstwerks (bei den Proben) Vorsicht und Rücksicht herrschen, auch wenn sich Parallelen zwischen Kunst und Leben nicht immer fein säuberlich trennen lassen. Die Exzesse der Kunst und speziell des Theaters lassen sich nur diszipliniert und möglichst unabhängig von der eigenen Triebstruktur realisieren, das unterscheidet sie strukturell von den Exzessen der Könige, die Sagan beschreibt. Die Auseinandersetzung mit dem Unbekannten, das man selbst ist, ist für die Akteure des Ästhetischen eine große Herausforderung und führt zu starken physischen und psychischen Belastungen, die als solche normalerweise nicht Teil des Kunstwerks sind. Ein Regisseur, der Unwahrscheinliches produziert, kann häufig nicht erklären und begründen, was er auf der Bühne oder vor der Kamera sehen will – und erst recht nicht, warum er es sehen will. Das muss keine Unfähigkeit sein, sondern mag gerade an der Fähigkeit des Künstlers liegen, etwas zu können, was sonst keiner kann. Das »Können des Nicht-Könnens«, wie Christoph Menke in seiner Theorie ästhetischen Handelns deutlich macht, das, wofür es (noch) keine Gebrauchsanweisung und -begründung gibt, dieses Segeln im Unbekannten, macht die Arbeit in der Kunst so reizvoll und gefährlich. Sie für den persönlichen Machterwerb in der wirklichen Welt auszunutzen, ist arm und kunstfeindlich. (Und – ist es wirklich nötig, das zu sagen? – niemand sollte sich das gefallen lassen, so sehr er auch bereit ist, sich auf der Bühne und in der Kunst in Ausnahmezustände und psychische wie physische Gefährdungen zu begeben.)
Die lebendige Kraft, die jenseits von Gut und Böse ist, die einfach ohne unser Zutun da ist, noch vor jeder Bestimmung – das Vorsubjektive, das Nicht-Identische, das Reale, das Dunkle oder wie man sie auch nennen will –, können wir in den Spiel- und Scheinwelten der Kunst ans Licht bringen, und dies ist wiederum nur dann möglich, wenn die Rahmenbedingungen rational geregelt sind und nicht mit dem Produkt verwechselt werden. Exzess und Disziplin bedingen einander. Das wusste schon Hölderlin: »Da wo die Nüchternheit dich verlässt, da ist die Grenze deiner Begeisterung.« Wer sich im Theater und in der Kunst auf seine Abgründe einlässt, braucht eine Verankerung, die es ihm ermöglicht, auch wieder herauszukommen. Je stärker diese Verankerung ist, desto tiefer kann er sich auf die Abgründe einlassen. Riskant bleibt es trotzdem, Kunst zu machen oder sich zum Material der Kunstpraxis eines anderen zu machen. Denn auch ein Regisseur, der kein Despot ist, muss im Umgang mit dem Material möglichst unbeschränkt sein können. Man erwartet von ihm, dass er tut, was er will – sogar ohne Begründung –, aber auch, dass er diese Freiheit auf das Spiel beschränkt. Letzteres bedeutet allerdings nicht, dass dadurch die Probebühne zum safe space würde. Die Herausforderungen der ästhetischen Praxis, die sich mit dem Leben beschäftigt, auch mit dem eigenen, können auch ohne Übergriffigkeiten und Machtmissbrauch tiefgehende seelische und körperliche Belastungen hervorrufen.
Die dunklen lebendigen Kräfte, die unbestimmt und unerwartet und unbegründet aus uns hervorbrechen, bedürfen sozialer praktischer Vermögen, die sie einschränken und konterkarieren, wie Christoph Menke in seinen beiden Büchern über den ästhetischen Kraft-Begriff gezeigt hat ( Die Kraft der Kunst und Kraft: Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie ). Für Menke befinden sich lebendige Kraft und soziales Vermögen in einem Verhältnis wechselseitiger Negativität, und nur in dieser wechselseitigen Verneinung gelangen sie zu ihrer positiven Existenz. Die unbestimmte Kraft, die uns bestimmt, und die bestimmenden Vermögen, die der Kraft eine Form geben, sind wechselseitig voneinander abhängig und einander entgegengesetzt. Das führt bei Menke zu der »Einsicht, dass das, was das Vermögen ermöglicht, [nämlich das Spiel dunkler Kräfte], es zugleich unmöglich macht«. So befinden sich Kräfte und Vermögen permanent in einem nicht beendbaren Konflikt. Nur in der Kunst können sie ihn abstellen und eine widerspruchslose Einheit bilden, aber die ist als solche immer fiktiv: ästhetischer Schein.
In dieser in ihren Grundzügen auch bei Fichte, Hölderlin und Schiller zu findenden Konstruktion ist eine Absage an die Möglichkeit menschlicher Allmacht genauso enthalten wie die Absage an jede Art von Erlösung bei lebendigem Leibe. Wir können weder in den Mutterleib noch in die kindliche Allmachtsphase zurück, wir sind auf die Beschränktheit angewiesen; selbst die ästhetische Schönheit, die wir erfahren und sogar herstellen können, ist abhängig von unserer Beschränktheit, von Grenzen, die wir erweitern, aber nicht überwinden können. Hölderlin hat das zur gleichen Zeit wie Schiller in einem paradoxen Satz zum Ausdruck gebracht: »Am Tage, da die schöne Welt für uns begann, begann für uns die Dürftigkeit des Lebens.« So sieht es aus. Schönheit und Vollkommenheit sind an Armut und Mangel gebunden. Die Wahrheit des unbeschränkten Subjekts, seine grenzenlose Freiheit, ist immer nur eine Fiktion, nur im Schein können wir zu ganzen Menschen werden, als lebendige Wesen sind wir konstitutiv auf unsere Unfertigkeit und Schwäche angewiesen: letztlich auf unsere Sterblichkeit. Den ästhetischen Schein durch Anleihen an die Wirklichkeit verstärken zu wollen, ist genauso aussichtslos wie der Versuch, die Wirklichkeit durch den Schein zu verbessern. Deshalb lehnt Schiller alle Versuche ab, ästhetischen Schein durch »logischen Schein« zu ersetzen. Er bezeichnet solche Versuche als »Betrug«. Die Freiheit der Kunst auf das Leben in der Welt zu übertragen, ist nicht nur ein Fehler, sondern auch dauerhaft gar nicht möglich, denn eine Wirklichkeit, die auf Schein, das heißt auf Lügen gebaut ist, fällt früher oder später in sich zusammen wie die Blasen in der Finanzindustrie. Künstler, Regisseure, Intendanten, die meinen, sie könnten von den unbegrenzten Möglichkeiten der Kunstfreiheit persönlich profitieren und die Unbeschränktheit, die ihnen in der Kunstpraxis erlaubt ist, auch zur Ausweitung ihrer Möglichkeiten in ihrer eigenen Lebenswelt benutzen, verwandeln das »interesselose Wohlgefallen« (Kant) an der Kunst in profane Machtausübung. Das ist Missbrauch der Kunst. Das verwandelt ästhetische Allmacht in ein schmutziges Geschäft. Es schadet nicht nur der Kunst und den Opfern dieses Handelns, sondern auch denen, die diesen Machtmissbrauch praktizieren. Diese landen in einer Sackgasse, denn ihre vermeintlich berufsbedingte Allmacht ist ein Zwangszusammenhang. Man kann das sicher als sozialisationsbedingt erklären – sie sind in der narzisstischen Allmachtsphase stecken geblieben, die unendlich nachgiebige Mutter ist schuld usw. –, aber nicht als künstlerische Notwendigkeit rechtfertigen.
Читать дальше