AUTOR
Tödlich der Menschheit ihre zu rasche Vermehrung
Jede Geburt ein Tod zu wenig Mord ein Geschenk
Jeder Taifun / Erdbeben eine Hoffnung / Hoffnung der Welt Lob den
Vulkanen
Nicht Jesus Herodes kannte die Wege der Welt
Die Massaker sind Investitionen in die Zukunft
Gott ist kein Mann keine Frau ist ein Virus
Du hörst mir nicht zu.
REGISSEUR
Stimmt. Warum sollte ich. Wir sind im Theater.
Das Bild entstand am Tag der Generalprobe am 26. Juni 1996 und ist nicht ganz fertig geworden.
Abb.: Carl Hegemann, »Deutschland spielt immer noch die Nibelungen«, Filzstift auf Berliner U-Bahnplan, 360 x 250 cm, anlässlich der Uraufführung von Heiner Müllers Germania 3 – Gespenster am toten Mann , Berliner Ensemble, 19. 6. 1996.
Telefongespräch Berlin-New York mit Boris Groys, April 2020
Carl Hegemann:Du unterrichtest jetzt seit elf Jahren in New York an der Universität. Und auf einmal ist New York das Epizentrum einer neuen globalen Seuche, gegen die es noch kein Mittel gibt und die unser Leben stark verändert. Was bedeutet das für deinen Alltag in Manhattan? Gehst du schon wieder raus?
Boris Groys:Nein. Ich gehe nicht raus, empfange auch keinen Besuch, ich habe keinen Kontakt nach außen, ich habe seit fast zwei Monaten niemanden getroffen. Ich sehe überhaupt niemanden.
Hegemann:Hier sagen viele, das Ganze sei nur ein Vorwand für die Beschneidung individueller Freiheitsrechte, Corona sei nicht mehr als ein gewöhnliches Grippevirus. Auf Demonstrationen fordern sie die Rücknahme sämtlicher Einschränkungen …
Groys:Das ist vollkommen absurd. Die Sache ist klar; alle wissen, dass es absurd ist, die Gefährlichkeit des Virus zu leugnen. Aber auf der anderen Seite muss man dann trotzdem solche Absurditäten behaupten, weil man befürchtet, dass die Wirtschaft zusammenbricht. Man nimmt in Kauf, dass ein gewisser Prozentsatz der Menschen stirbt, weil sonst alles kollabiert. Gut, das verstehe ich, aber ich möchte nicht ein Teil davon sein, und deswegen bleibe ich zu Hause.
Hegemann:Viele fürchten, ein Ausnahmezustand von solcher Länge würde zu einem irreversiblen Niedergang unseres Wirtschafts- und Sozialsystems führen.
Groys:Nein, der findet ohnehin schon statt. Durch Corona wird nur eine Entwicklung beschleunigt, die wir schon in den letzten 20 Jahren beobachten konnten: der Niedergang der klassischen Wirtschaft, also der Wirtschaft, wie sie sich formiert hat zum Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. In Deutschland spürt man es vielleicht nicht so deutlich, aber in Amerika ist dieser Untergang unübersehbar. Ein Unternehmen nach dem anderen wurde geschlossen oder es wurde nach China verlagert oder wohin auch immer. Schon vor dem Virus war die traditionelle Wirtschaft halbtot. Genauso übrigens wie die Universitäten, die meistens verschuldet sind und deren Studenten auch alle verschuldet sind, oder wie die Museen, die zuletzt vor allem Ausstellungen gemacht haben über Mode oder Fußball. Und jetzt wird dieser Prozess einfach weitergehen, nur schneller.
Das letzte Jahrzehnt hat die größte Verlagerung des Eigentums und des Reichtums in der Geschichte der Menschheit hervorgebracht, die Verlagerung von der alten Ökonomie zu den sogenannten Tech Corporations , zur neuen Ökonomie, zu Firmen wie Apple, Facebook und Microsoft.
Hegemann:Also zu der digitalen Social-Media-Technologie, die es dir zum Beispiel ermöglicht, deine Seminare auch in Zeiten der Coronaviren abzuhalten. Als international gut vernetzter Akteur profitierst du doch von dieser neuen Ökonomie.
Groys:Ja, vielleicht, ich war aber auch schon vor der digitalen Wende bekannt. Du kannst bei Google nur nach dem fragen, was dir schon bekannt ist. Alles wird tautologisch. Das Ende der traditionellen Wirtschaft ist auch das Ende der traditionellen Kultur. Stattdessen haben wir jetzt eine neue Kultur, die Online-Kultur, die Kultur der Verbreitung dessen, was immer schon da war.
Hegemann:Die körperliche Distanz, die das Virus erzwingt, wirkt jedenfalls wie eine riesige Marketingveranstaltung für das Internet.
Groys:Ja. Aber es ist noch mehr. Das Virus ist ja genau das, was diese Internetkultur immer als ein Ideal betrachtet hat. Wenn man kunstinteressierte Leute fragte, was sie tun wollen, dann haben sie immer gesagt: viral gehen, ein virales Video machen, einen viralen Text schreiben. Für die neue Internetkultur bezeichnet das Wort Virus ein kulturelles Ideal, und dieses Ideal gibt es schon, seit man in der Moderne begann, wie Tolstoi oder Malewitsch Kunst und Kultur als Formen von bakterieller Infektion zu verstehen. Und nun kommt das Coronavirus als Apotheose der Viralität. Es kommt hier tatsächlich zu einer intimen Einheit, Kollaboration und Symbiose von Internet und Virus. Corona ist wirklich das Königsvirus. Es trägt die Krone im Namen. Das Virus ist viral geworden. Keiner spricht mehr über Lady Gaga, wir sprechen nur über das Virus, es ist der Star unserer Internetkultur geworden. Weil es unseren Körper krank machen kann, halten wir uns das Virus vom Leibe und verlegen unsere Kontakte ins Internet, aber im Internet gibt es nur ein zentrales Thema: das Virus. Wir schützen unseren Körper vor dem Virus, und das hat zur Folge, dass uns das Virus auf der Ebene des Geistes total infiziert. Das ist die Realität.
Hegemann:Oder das Ende der Realität?
Groys:Wenn ich sage, ich kann meine Hand nicht ins Feuer legen, ohne dass ich mich verbrenne, beziehe ich mich auf eine äußere Realität, die mich begrenzt. Realität ist immer Begrenzung, real ist das, worüber wir keine Macht haben. Das Coronavirus ist real, solange es uns begrenzt. Indem wir diese Begrenzung anerkennen, erkennen wir die Realität an. So jedenfalls hat Realität bis jetzt für uns funktioniert. Aber nun ist unser Denken und auch unser Fühlen von der Internetverbreitung infiziert. Und wir erleben eine Verlagerung des Virus vom Körperlichen zum Geistigen, von der physischen Realität zur digital vermittelten Spiritualität. Das Spirituelle begreift sich aber traditionell, anders als das Physische, nicht als begrenzt, sondern als unbegrenzt.
Das Virale war der Weg, durch den sich unsere Zukunftsträume und Wünsche erfüllen sollten. Das heißt, das Virus, mit dem wir es jetzt zu tun haben, ist eigentlich die Einlösung unserer Utopien. Das Virus sorgt für den totalen Umweltschutz, weil es die klassische Industrie, die die Welt verpestet mit Flugzeugen, Autos, Kreuzfahrtschiffen, zum Stillstand gebracht hat. Das Öl kostet nichts mehr, niemand benutzt es. Das Virus hat erreicht, was Greta Thunberg nicht erreicht hat: die Stilllegung der traditionellen Wirtschaft und den globalen Umweltschutz. Das Virus ist die größte Umweltschutzmaßnahme, die es je gegeben hat. Aber immer, wenn Menschen sehen, dass ihre Wünsche und utopischen Vorstellungen realisiert werden, dann sind sie schockiert und werden sehr schnell unzufrieden. Und klammern sich an das, was sie vorher bekämpft haben. Aber das ist normal, das passiert immer in solchen Situationen.
Hegemann:»Der Beginn alles Neuen ist der Schrecken.«
Groys:Ja, es beginnt ein neues utopisches Zeitalter. Wir stehen am Anfang einer neuen Spiritualisierung oder, besser gesagt, einer Quasi-Spiritualisierung, die vergisst, dass Geist in diesem Fall mit Elektrizität koinzidiert und dass es mit der Spiritualität vorbei ist, wenn man seine Stromrechnung nicht bezahlt.
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