Dieser metaphysische Aufruf, der Künstler und kontemplative Nichtstuer zu »unbewegten Bewegern« erklärt, die an die Stelle Gottes treten sollen, begreift sich als Rettungsversuch der Aktivität. Pörksens Film über das reine Nichtstun illustriert das ganz gut: Wenn einer sich hinsetzt und nichts mehr tut, beginnen alle anderen, wie verrückt aktiv zu werden, wir brauchen uns um die Aktivität keine Sorgen zu machen. Könnte das aber auch heißen: Zeitverschwendung, Nichtstun bis hin zur Asozialität sind temporär notwendige Zustände, auf die sich das Subjekt selbstbewusst und angstfrei einlassen sollte, wenn es nicht verkümmern will? Es sieht ganz so aus. Aber diese außerökonomischen Erfahrungsweisen der Kontemplation gedeihen nur, wenn sie nicht ihrerseits funktionalisiert und in den ökonomischen Prozess eingespeist werden. Der Zwang zur Selbstoptimierung, das heißt zur Durchökonomisierung der gesamten Lebenszeit, ist eine Sackgasse, selbst für die Ökonomie.
Das Dunkel, das uns blendet
Sind wir Weltraumschrott?
Theodor Mommsen war es unmöglich den vierten Band seiner Römischen Geschichte über die Kaiserzeit zu schreiben. In diesem rätselhaften Versagen des großen Historikers spiegelte Heiner Müller nach dem Fall der Mauer seine eigene Schreibblockade: die Unmöglichkeit nach dem vermeintlichen Ende des Systemkonflikts zwischen Ost und West noch Stücke zu schreiben.
Nach seiner eigenen Einschätzung war das Verschwinden dramatischer und erst recht tragischer Konflikte aus der Geschichte, die Nivellierung ihrer vormals unauflöslich erscheinenden Widersprüche der Grund für diese Blockade – und für seine Krankheit.
»Tragödien schreiben: heilige Einfalt«. Die großen unauflösbaren Widersprüche, die das Drama generieren, werden unsichtbar, der Sieg des Marktes über die Ideen und Werte, die er in seinen Dienst nimmt, setzt eine Fortschrittslogik in Gang, die nur eine Richtung kennt: Erfolg, der sich in Geld messen lässt. Müller: »Mittlerweile ist Geld der einzige Wert, auf den hin Orientierung realistisch oder sogar möglich ist. Der Ideenhimmel ist verbraucht. Es gibt nur noch Märkte, und dadurch entsteht eine ungeheure Leere.« Und er fügte hinzu: »Die Frage ist, ob der Mensch das aushält.«
An die Stelle des Gegensatzes zwischen einem immer gefährdeten Kapitalismus und einem an Dirigismus und Bürokratie leidenden »real existierenden Sozialismus« trat der alternativlos scheinende Monolith des globalisierten Kapitals. Dadurch schien auch Müllers Werk obsolet zu werden. (Als Müller das schrieb, gab es noch keine Finanzkrise, die heute auch die Orientierung am Geld unrealistisch und vielleicht sogar unmöglich erscheinen lässt und – wer weiß? – die Tragödienmaschine vielleicht wieder in Gang setzen könnte.)
Ein letztes Stück, das Heiner Müller sich dann doch noch abringen konnte, Germania 3. Gespenster am Toten Mann , endet mit einem Zitat des Kosmonauten Juri Gagarin: »Dunkel Genossen ist der Weltraum sehr dunkel.«
Auch der Planet Erde befindet sich im Weltraum. Wolfram Lotz, einer der wenigen neuen Dramatiker, die definitiv nicht hinter Müllers Einsichten zurückgefallen sind, hat diese »auf blinde Aktion und Kapitalbewegung« reduzierte Erde und ihre Bewohner als »Weltraumschrott« bezeichnet. »Wir sind Weltraumschrott.« Der Satz trifft die zusammenhanglose Existenz von uns heutigen Marktteilnehmern vielleicht ganz gut. Atomisierte Individuen rasen durch einen leeren Raum voller Schrott, sie vertreiben sich die tote Zeit mit Witzen, träumen haltlos und sind ansonsten auf ihre unmittelbaren Lebensfunktionen zurückgeworfen, letztlich auf das Atmen. »Was tun sie da? Ich atme! Es ist ja zunehmend eine Leistung zu atmen, das kann man durchaus ausstellen. Da ist einer, der atmet, mitten in der Stadt, das ist schon fast ein Kunstwerk.«
Disparate Assoziationsreihen und Bruchstücke treten an die Stelle des kohärenten Dramas, wenn das Leben draußen nur noch von Markt und Geld bestimmt wird.
Auch die Texte aus dem Spätwerk Heiner Müllers und Referenztexte aus einigen früheren Arbeiten, die Dimiter Gotscheff und das Ensemble seiner Inszenierung am Thalia Theater unter dem Titel Leeres Theater zusammengestellt haben, spiegeln diesen Prozess der Fragmentierung. Sie wenden sich gegen die »Lebenslüge des Zusammenhangs« und schweißen doch gleichzeitig zusammen. Die Erfahrung, dass es guttut, sich wieder mit Heiner Müller auseinanderzusetzen, ist für einige der Beteiligten überraschend. Es geht zwar um nichts oder um das Nichts, wie bei Beckett, es geht tatsächlich um so etwas wie das Verschwinden im unendlichen Raum, aber Müller sucht auch nach einem Halt, nach einer Perspektive, die nicht dem Verschwinden ausgeliefert ist, und der Anker, den er findet, ist erstaunlicherweise genau dieses Verschwinden selbst: der Tod, das Sterben – und die Angst davor. Das verschwindet nicht.
In einem Gespräch mit Alexander Kluge formuliert es Heiner Müller so:
Das Wesentliche am Theater ist die Verwandlung. Das Sterben. Und die Angst vor dieser letzten Verwandlung ist allgemein, auf die kann man sich verlassen, auf die kann man bauen. Das ist auch die Angst des Schauspielers und die Angst des Zuschauers. Und das Spezifische am Theater ist eben nicht die Präsenz des lebenden Schauspielers oder des lebenden Zuschauers, sondern die Präsenz des potentiell Sterbenden.
Die fundamentale Verwandlung, die alle Lebenden noch vor sich haben, die Verwandlung »in unbedrohbaren Staub« (Brecht), ist zu einem fast exklusiven Thema der Kunst geworden. Denn Marktwirtschaft funktioniert nur, wenn sie diese Verwandlung verdrängt. Müller: »Die Hauptfunktion der bürgerlichen Gesellschaft: die Verdrängung des Todes.« Die Kunst und speziell das Theater scheinen dagegen vom Tod zu leben, von seiner überwältigenden Problematik. Und darin besteht vielleicht ihre utopische Kraft. Das Thema der Marktwirtschaft ist der Erfolg, das Thema des Theaters ist der Misserfolg, den die Marktwirtschaft verdrängen muss. Der Tod ist der Misserfolg schlechthin, allerdings ein Misserfolg, den man zwar verdrängen, aber nicht verhindern kann. Dass sie auch den größten Misserfolg nicht zu verdrängen braucht, macht die Kunst überlegen – und eines Tages vielleicht auch wieder den Kommunismus, zumindest dann, wenn man bereit ist, die beiden von Heiner Müller zitierten »schönen Bemerkungen« von Ilja Ehrenburg und Ernst Bloch zu verstehen, die die Tragödie mit dem Kommunismus nicht beenden, sondern beginnen lassen wollten: »Wenn der Kommunismus gesiegt hat und alle ökonomischen Probleme gelöst sind, beginnt die Tragödie des Menschen. Die Tragödie seiner Sterblichkeit.« Und: »Der Kommunismus hat für den Einzelnen keine Hoffnung. Aber das ganze System der Marktwirtschaft beruht darauf, dem Einzelnen zu suggerieren, dass gerade er eine Hoffnung hat.«
Wenn es dem Theater gelänge, das Schweigen wieder hörbar zu machen, »das der Grund seiner Sprache ist«, und das »Dunkel, das uns blendet« auf der Bühne sichtbar zu machen, bräuchten wir uns augenblicklich nicht mehr wie Weltraumschrott zu fühlen.
Zusammenfall von Mythos und Geschichte bei Heiner Müller (Kommentar zum Germania 3-Schaubild)
Das Schaubild (siehe folgende Seite) habe ich anlässlich der Aufführung von Heiner Müllers Germania 3 – Gespenster am toten Mann am Berliner Ensemble (BE) im Anschluss an die Generalprobe 1996 auf den Berliner U-Bahn-Plan gezeichnet. Es ist ein Versuch zu rekonstruieren, wie sich Heiner Müller die Verbindung von Deutschem Mythos und Geschichte vorstellte. Im Mittelpunkt steht Rosa Luxemburg, in Müllers Privatmythologie eine Verwandte Kriemhilds aus dem Nibelungenlied , deren Ermordung das Scheitern des Sozialismus bereits früh besiegelte und deren Rache der Zweite Weltkrieg war. Das Bild ist selbsterklärend, wenn man sich die »Legende« oben rechts und die »Zeichenerklärung« unten links ansieht. Für Heiner Müller stellen sich nicht nur der Kessel von Stalingrad, sondern auch die Berliner Mauer und sogar das BE als historische Wiederholungen oder Verwandlungen der Ereignisse in König Etzels mythischem Hofsaal dar, dem Ort von Kriemhilds Rache. Das Bild skizziert zudem Heiner Müllers Genealogie einer dumpfen Teleologie der Naturgeschichte von den Dinosauriern (»nicht von Spielberg«) über Goyas Riesen bis zum »Krieg der Viren«, dem die letzte Szene von Germania 3 gewidmet war (nicht in der Druckfassung, aber in Mark Lammerts Arbeitsbuch, BE Drucksache 20). »Gott ist vielleicht ein Virus« sagt dort der Autor zum Regisseur (»beide betrunken«), ein »leeres Theater« ist der Schauplatz dieses Dialogs, der sarkastisch die Viren als Mittel zur marktkonformen Bekämpfung der, wie man damals sagte, »Bevölkerungsexplosion« feiert.
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