Auch der unaufhaltsame Zerfall der traditionellen Wirtschaft und das Fortschreiten der Künstlichen Intelligenz sind Triebfedern für diese digitale Spiritualisierung. Und das Spirituelle, der Geist oder der Intellekt oder was auch immer, wird nun als Algorithmus verstanden.
Hegemann:Immerhin macht es so ein spiritueller Algorithmus möglich, zumindest virtuell die uns begrenzende Realität zu überwinden, also zum Beispiel, die Hand ins Feuer zu legen, ohne sich die Finger zu verbrennen.
Groys:Wenn man sich auf das Internet einlässt, verbrennt man sich schon die Finger, weil sich Feuer oder Viren schneller verbreiten als die eigenen Gedanken. Der Horizont der Verbreitung scheint unbegrenzt zu sein, aber wir nehmen an der Konkurrenz der Verbreitung teil. Und diese Konkurrenz erzeugt den Effekt der Realität: unsere Verbreitung wird durch die Verbreitung der anderen und des anderen begrenzt. In der traditionellen Kultur gab es zunächst die Konkurrenz um die Qualität und dann die Konkurrenz um die Innovation. Jetzt herrscht aber die Konkurrenz um die Verbreitung: wer hat mehr Likes, was für ein Bild oder Text hat mehr Klicks et cetera. Und wir haben sehr gute Chancen, diesen Wettbewerb zu verlieren. Ich meine: wir als Menschen, denn die meisten Likes kriegen die Videos mit Katzen und Hunden sowie mit Wetterkatastrophen, Flugzeugabstürzen und so weiter.
Hegemann:Mittels Künstlicher Intelligenz und Algorithmen verbreitet sich auch die privat und staatlich betriebene, potentiell unbegrenzte Überwachung nahezu aller Menschen, die irgendeine Art von Netzzugang haben. Gibt es einen Zusammenhang zwischen den neuen Formen der Überwachung und der Spiritualisierungstendenz, die du gerade beschrieben hast?
Groys:Die globale Wirtschaft basiert heute auf dem Internet beziehungsweise den großen Internetgesellschaften wie Facebook oder Google, während die Nationalstaaten und ihre Politik noch auf der traditionellen Ökonomie des letzten Jahrhunderts basieren. Jetzt, wo die traditionelle Ökonomie kollabiert, wird sich der Konflikt zwischen der nationalen Politik auf der einen Seite und der transnationalen Internetwirtschaft auf der anderen Seite verschärfen. Und ich denke, dass in der jetzigen Situation die regionale Politik, das heißt der Nationalismus, bessere Chancen hat, diesen Konflikt für sich zu entscheiden, als die global vernetzte Wirtschaft.
Hegemann:Das heißt, dass nationalistische Politik, wie sie Trump und viele andere ja schon länger praktizieren, angesichts der Erfahrungen mit der Corona-Krise zum allgemeinen Modell werden könnte? Schließung der Grenzen und nationale Interessenpolitik, Protektion statt Globalisierung?
Groys:Historisch wurde die Globalisierung immer wieder als eine Art Infektion, die die nationalen Immunsysteme durchbricht, als dekadent und krank empfunden. Man wollte deshalb diese Immunsysteme stärken und das Volk gesund halten. Dieser Gegensatz gesund/infiziert durchzieht das Denken der Moderne – und das gegenwärtige Denken erst recht.
Die Nationalstaaten versuchen, diese globale Infektion unter ihre lokale Kontrolle zu bringen. Die rechten Tendenzen, die wir in vielen Staaten schon länger beobachten können, dürften durch die neue Situation verstärkt werden.
Hegemann:Statt grenzensprengender Solidarität angesichts einer globalen Katastrophe also blinder Glaube an die Kraft der Nation und der nationalen Führer?
Groys:Ja. Diese Entsolidarisierung kommt auch daher, dass der Einzelne glaubt, dass er schneller und besser allein vorankommt als gemeinsam mit anderen, die er aus Pflichtgefühl mitschleppen muss. Das individuelle Konkurrenzdenken wird als wirkungsvoller empfunden. Und genauso werden auch viele Nationen denken: Wir schaffen es besser alleine als mit den anderen. Es gibt eine satirische, aber sehr präzise Beschreibung des indischen Schriftstellers Aravind Adiga in Der weiße Tiger . Der Held hat große Probleme. Er weiß nicht, wie er vorankommen soll, nichts klappt. Aber dann lässt er es zu, dass seine ganze Familie abgeschlachtet wird. Und nachdem er sie losgeworden ist, kommt er sehr schnell zu großem Reichtum, Einfluss und Erfolg. Also: Wichtig ist, allein zu bleiben. Allein kommt man besser voran.
Das heutige Indien, wie es der Autor beschreibt, ist ein halb-feudales Land. Dort ist es üblich, jemandem, der nicht spuren will und dem System und den herrschenden Mächten Schwierigkeiten macht, als ultima ratio mit der Ermordung seiner ganzen Familie zu drohen. Gegen diese extreme Art von Erpressung kann man sich nur wehren, wenn man sich entscheidet, seine gesamte Familie zu opfern oder ihren Tod zumindest zu riskieren. Und die Familie ist groß, in diesem Fall besteht sie aus etwa zwanzig Personen. Solange man erpressbar ist, weil man auf andere Rücksicht nimmt oder seine Angehörigen schützen will, kommt man nicht voran. Ich glaube, das ist die eigentliche Utopie unserer Zeit: alles allein zu machen.
Hegemann: Solidarität ist Selbstmord hieß schon vor vielen Jahren ein Stück von René Pollesch. Ist diese Einsicht nicht längst herrschende Ideologie?
Groys:Das ist nicht nur Ideologie, das ist Realität. Wir sind eine Konkurrenzgesellschaft, überall, nicht nur am Markt. Und wer diese Konkurrenz nicht durchsteht, hat verloren.
Hegemann:Am Anfang der Krise sah es so aus, als würden auf einmal längst vergessene Tugenden aktiviert werden: gegenseitige Hilfe, Rücksicht auf Schwächere, Einschränkungen persönlicher Freiheit. Plötzlich schien Solidarität möglich. Die Firma Adidas zum Beispiel bekam einen Shitstorm, weil sie sich diesen Tugenden verweigerte.
Groys:Das galt nur für kurze Zeit. Die jungen Leute fragten sich sehr bald, warum sie in ihrer Freiheit und ihren Bedürfnissen eingeschränkt werden, obwohl ihr eigenes Risiko sehr gering ist. Dass es geschieht, damit alte Menschen, die keiner mehr braucht, noch ein bisschen länger überleben können, scheint ihnen an den Haaren herbeigezogen. Ich fürchte, dass es diese Solidarität nicht wirklich gibt. Die meisten Menschen akzeptieren in dieser Situation die staatlichen Maßnahmen und tun, was von ihnen verlangt wird, aber nicht aus Solidarität und Menschlichkeit, sondern weil sie das Chaos fürchten, das kommt, wenn der Staat wackelt. Und zwar zu Recht.
Hegemann:Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass auch viele, gerade junge Leute, wirklich Angst hatten, anderen zu schaden, wenn sie nicht aufpassen. Sie wollten nicht schuld sein, dass jemand stirbt, weil sie die Abstandsregeln nicht eingehalten haben. Fürsorglichkeit und Aufmerksamkeit für andere gab es und gibt es auch immer noch.
Groys:Ich spreche nicht darüber, wie die Menschen sind, sie sind meistens nett. Ich spreche über die Mechanismen der ökonomischen und politischen Selektion, die Menschen ganz unabhängig von ihren persönlichen Eigenschaften nach oben spülen oder fallen lassen. Ich spreche darüber, wie die ökonomische und politische Logik sich entwickelt und nicht über die einzelnen Menschen und auch nicht über die Menschheit. Die Menschheit insgesamt ist sicher viel besser als das System, unter dem diese Menschheit leben muss.
Individualismus und Nationalismus
Hegemann:Der Glaube an den Erfolg sozialer oder sozialistischer Bewegungen scheint dir ziemlich abhandengekommen zu sein.
Groys:Wenn man sich die politischen Entwicklungen ansieht, stellt man fest, dass sich alle Parteien, die sich für Solidarität, Kollektivität und Teilen eingesetzt haben, also kommunistische Parteien, sozialistische Parteien, sogar linksliberale Parteien, im Niedergang befinden. Die Funktionsmechanismen des politischen und ökonomischen Systems führen dazu, dass spätestens nach dem Ende der Sowjetunion alles, was nach Solidarität und globaler Verantwortung roch, ganz schnell verschwunden ist, während Parteien, die auf nationale Interessen setzen, stark anwachsen. Dieser Prozess kann nicht moralisch oder psychologisch erklärt werden. Es sind außerpsychologische Mechanismen, die hier wirken.
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