Hubers Vater war ein typischer Praktiker «und benutzte besonders und mit Vorliebe die Ergebnisse seiner französischen Lectüren. Weniger verwendete er seine Zeit auf rein wissenschaftliche Forschungen.» 93Seine Französischkenntnisse reichten demnach aus, um Fachliteratur in dieser Fremdsprache zu verstehen. Auf seine Art muss er ein gebildeter, interessierter Mann gewesen sein. Im Alter träumte Sohn Huber eines Nachts, man verkaufe seine [Hubers] Bibliothek, «und dabei plagte mich vor allem, dass die kleinen Büchelchen aus der Bibliothek meines Vaters, die deutschen Klassiker, verkauft worden waren, und ich dachte nach, wie ich sie zurückkaufen könnte». 94In jener Epoche war es keineswegs selbstverständlich, dass ein Kind in einer Familie aufwuchs, in der es Bücher gab, der Doktorbub war trotz allem privilegiert.
«Eine regelmässige, aber nicht ängstliche Lebensweise beobachtend, genoss er eine dauerhafte Gesundheit und ertrug alle Strapazen des landärztlichen Berufes.» 95Verbarg sich hinter der diplomatischen Formulierung einer «nicht ängstlichen Lebensweise» ein Hinweis auf Hans Conrad Hubers Trunksucht? Als Eugen Hubers älteste Schwester Anna später an einer Arbeitsstelle heimlich zur Flasche griff, klagte Bruder August «Es ist natürlich ein Erbstück. Allein man sollte eben gegen so was kämpfen.» 96Anna selbst hätte damals im Rausch zu andern gesagt, «sie mache es ihrem Vater nach». 97
TEIL II
STURM UND DRANG IN ZÜRICH
Am 8. Dezember 1862 erkrankte Hans Conrad Huber an einer Lungenentzündung. Trotz seiner Schwäche machte er am folgenden Tag einen Krankenbesuch und rettete dem kleinen Patienten vermutlich das Leben. Umsonst liess er sich als Therapie Blutegel ansetzen. «Unerträglicher Schmerz und furchtbare Beängstigung wechselten mit lebhaften Delirien bis am 12. Abends; dann trat Ruhe ein und geistige Klarheit, aber auch das Vorgefühl des nahenden Endes, und mit hellem Geiste traf der Scheidende noch manche werthvolle Anordnung für das Wohl seiner zurückbleibenden Familie.» 1
Huber beschrieb 50 Jahre später den Abschied vom Vater so: «Es schwebte mir heute immer jener trübe, nasse Dezembertag vor Augen, da unser Vater am Sterben lag … jedes Zeitalter muss für das Gute danken, das es bringt. Und ich danke meinem lieben Vater für das was ich geworden bin. Sagte er mir nicht beim Abschied: Werde was du willst, aber was du wirst, werde es mit ganzer Seele und ganzer Kraft! Wie sehr hatte ich gerade diesen Zuspruch nötig! Wie arg hat es mich herumgetrieben!» 2
Für die Familie war der allzu frühe Tod eine Katastrophe, das bisherige Leben brach innert kürzester Zeit zusammen. August Huber gedachte jener Tage: «Wie schwer war es für die arme Mutter bei den bescheidenen Mitteln in die Zukunft zu blicken; im Alter von 44 Jahren bereits eine müde Frau sah sie für ihr Alter nicht Ruhe, sondern Mühe und Sorgen voraus. Auch für unsere Schwestern war es ein harter Schlag; das väterliche, heimelige Gut in Stammheim, das für sie doch immer ein Heim war, gieng auch für sie verloren.» 3Anna und Emma lebten damals zu Hause, Emma betreute die Apotheke.
Noch im Dezember 1862 musste das Doktorhaus verkauft werden. Ein Dr. Orelli interessierte sich für die Liegenschaft und versuchte, den Preis zu drücken. Ohne Wissen der Familie Huber übernachtete er im benachbarten Gasthof Schwert und beklagte sich über den hohen Preis. Spontan solidarisierten sich die Stammheimer mit der Witwe. Der auswärtige Gast «erhielt jedoch von allen Anwesenden die Antwort, das Haus und die schöne Praxis sei den besagten Preis von 16 000 Frs. wohl wert.» 4Im gleichen Brief teilte Huber seinem Bruder mit, ihre Mutter dürfe nicht allein entscheiden, sondern brauche einen Vormund.
Sein Bruder August war für Eugen ein Glücksfall. Unvermittelt wurde der junge kaufmännische Angestellte mit prekärer Gesundheit im Alter von nur 21 Jahren zum Familienoberhaupt. In dieser Rolle kümmerte er sich bis zu seinem Tod 1914 um das Wohlergehen seiner nächsten Umgebung. 5
In Zürich galt es als Erstes, die Zukunft Eugens zu sichern. August Huber wollte ihm den Besuch des Gymnasiums ermöglichen und etwa vorhandene Lücken in der Vorbildung durch Privatstunden schliessen lassen. «Wegen der bisschen Mehrkosten hast du dir, liebster Bruder, keine Skrupel zu machen; ich habe ja schon mehreremal versprochen, dich ganz auf meine Kosten ausbilden zu lassen, und da es mir ja möglich ist, thue ich es ja recht gerne mit allen Freuden.» Konkret bedeutete dies, dass er während Jahren seine eigenen Ansprüche zurückstellen und auf vieles verzichten musste. August Huber hatte einen ausgeprägten Familiensinn. «Sieh es freut mich halt recht auf unser nahes Zusammenleben; ich nehme dann bei Herrn Boshard das grössere Zimmer; wenn es nöthig ist, bringst du dein Bett mit und dann haben wir es ja ganz gemüthlich.» Auch Mutters Gesundheit machte ihm Sorgen und er fuhr fort, er sehne sich «ungemein nach der Zeit, wo ich ihr alle meine Aufmerksamkeit schenken und sie mit Munterkeit und fröhlichem, zufriedenem Sinn aufheitern kann». 6
«Meine Eintragungen betreffen fast nirgends die Arbeit», 7konstatierte betroffen der ältere Huber, als ihm 1910 die Aufzeichnungen aus seiner Jugendzeit in die Hand kamen. Tatsächlich beschäftigten den jungen Huber ganz andere, für sein damaliges Alter typische Fragen, wie zum Beispiel die Suche nach der eigenen Identität. Sollte er Schriftsteller oder doch Staatsmann werden? Oder liess sich beides verbinden? Welche Rolle konnte er im Gymnasialverein spielen? Wer war sein Freund und wer sein Gegner? Vor allem aber: Was ist der Sinn des Lebens?
Kurz nach dem Umzug nach Zürich lernte Huber in der Nachbarschaft den künftigen Geologen Albert Heim kennen. Es war eine typische Bubenfreundschaft. Während Jahren ging Huber in Heims Familie ein und aus. Schliesslich verliebte er sich – nicht zur Freude des Bruders – in Alberts jüngere Schwester Helene. Bevor Huber irgendwelche Schritte unternehmen konnte, starb Helene unerwartet kurz nach der Konfirmation 1866, ein schwerer Schock auch für den schüchternen Verehrer. Mit Heim besprach Huber seine Sorgen, mit ihm machte er Bergtouren, die beiden Jungen bestiegen beispielsweise 1865 die Mythen. Die innige Freundschaft hielt bis zum Berliner Studienaufenthalt im Winter 1869/70, wo sich die jungen Männer ein Zimmer teilten. «Heim und ich führen ein herrliches Leben. Einer heitert den andern in trüben Stunden auf, und um ihn, das seh ich schon, kommt man ins Schaffen hinein. Er hat grossartige Pläne, die man in ihm nicht vermuthen sollte.» 8Nach der Berliner Zeit trennten sich ihre Wege, Huber beklagte die Entfremdung in einem Gedicht. «Du denkst an mich wohl selten, an dich denk ich so viel, Getrennt wie der Stern und die Erde, Ist unser beider Ziel. Doch möcht’ ich die beiden Welten durchziehen an deiner Hand, mit dir die Lüfte durchsegeln und gehen Land zu Land …» 9Dennoch lebte die Freundschaft bis zu Hubers Tod in veränderter Form weiter, er wurde gar Pate von Heims einzigem Sohn Arnold.
Mit einigen Kollegen, die Huber im Gymnasium traf, stand er Zeit seines Lebens in intensivem Austausch. Anfang Oktober 1868 bestanden in Zürich 29 Absolventen die Maturitätsprüfung. Hubers Jugendfreund Albert Heim hatte vorher in die sogenannte Industrieschule gewechselt, da ihm das Gymnasium mit Latein und Griechisch zu sprachenlastig war. Damals war der Besuch des Gymnasiums einigen wenigen jungen Männern vorbehalten. Deshalb überrascht es kaum, dass viele künftige Koryphäen der Wissenschaft gemeinsam die Schulbank drückten. Alfred Kleiner, der «Philosoph» und später engste Freund Hubers, wurde Professor für Physik. In die Wissenschaftsgeschichte ging er zwar nicht mit eigenen Entdeckungen, aber doch als Einsteins Doktorvater ein. Adolf Kägis 10Griechischlehrbücher waren bis in die 1970er-Jahre in Gebrauch. Seine Laufbahn hatte er als Hauslehrer bei Familie Wesendonck 11begonnen, später wurde er Professor für Vergleichende Sprachwissenschaft, Sanskrit und klassische Philologie in Zürich. Huber hatte allerdings «nicht die schönsten Erinnerungen» an ihn, 12was immer das heissen mochte. Der Historiker Wilhelm Oechsli, 13Professor am Polytechnikum (heute ETH), setzte neue, wegweisende Massstäbe in der Deutung der Schweizer Geschichte. Emil Zürcher, zeitweise sehr eng mit Huber verbunden, dozierte Strafrecht, und Otto Stoll 14Geografie und Völkerkunde. Moritz Schröter 15schliesslich machte Karriere als Professor für Theoretische Maschinenlehre in München. Von einigen Mitschülern ist in Hubers Briefen oder Notizen nie die Rede, etwa vom Theologen Walter Kempin, 16dessen Gattin Emilie Kempin-Spyri die erste Privatdozentin an der juristischen Fakultät Zürich war.
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