Natürlich würden sich manche nicht mit Anhalten aufhalten und einfach vorbeifahren, natürlich würden die meisten von ihnen mit heiler Haut ankommen. Manche, nicht viele, nur die eine oder der andere, würden bereuen, umkehren und zurückfahren und ein paar Worte murmeln, während sie eine Bußgabe niederlegten; unter diesen Umkehrern gäbe es auch einige, aber hier sprechen wir über wirklich wenige, die dennoch nicht so ankommen würden, wie sie das sollten.
In dieser Straßentradition kann man sich einen Altar etwa für Ole Gjermund Hynde vorstellen, auf der Küstenstraße zwischen Kristiansand und Haugesund: ein Altar, stetig gewachsen seit dem ungewollten Verlassen der Straße am 8. April 1975 bei Nærbo, vier Meter und vierzig Zentimeter misst er an seinem höchsten Punkt, zudem wächst er in die Breite. Neue Gaben werden auf einen Vorsprung des ursprünglichen Altars abgelegt und auf ein Gerüst, das diesen teils abstützt, teils durch neue Ebenen erweitert und in ihn hineinwächst. Ole Gjermund Hynde wollte nur schnell zum Laden, jetzt ist er eine Art Gottheit, und während der Laden längst geschlossen wurde, ist es zumindest vorstellbar, dass im Laufe der Jahre sowohl der Arne-Garborg-Steinkopf, der zwischen die Felsbrocken bei Knudaheio gedrungen ist wie der Götterkopf aus Rekeland in Dalane, beim Steinaltar für Pferdeopfer für den Fruchtbarkeitsgott Frøy, miteinander verschmelzen und für kultische Repräsentationen von Ole Gjermund Hynde gehalten würden.
Doch solche Straßenbräuche wird man nur in anderen Ländern finden, in Norwegen behält der Asphalt das letzte Wort, was einem nie verlöschenden Licht am nächsten kommt, ist der Schein eines weißen Monds auf einer nassen Fahrbahn.
Als Aud Berre eines Tages in der Kurve steht, in der ihre Mutter seinerzeit verschwand, gibt es daher kein Wiedererkennen. Sie ist nicht zum ersten Mal zurückgekommen, aber das letzte Mal muss zehn, vielleicht zwölf Jahre her sein. Es hätte jede beliebige Kurve, jede beliebige gesprengte Stelle sein können. Sie nimmt an, sie ist am richtigen Ort, sicher ist sie nicht; der Stein in der Schneise wirkt vielleicht dunkler. Es hätte jeder beliebige Stein sein können, jede beliebige Kurve.
Landschaften verändern sich. Sind nicht auch die Augen mit der Zeit so voller Bilder, dass weniger Licht eindringt? Auds Schultern bewegen sich im Kapuzenpulli. Wie gleichgültig, wie unberührt dieser Ort von dem ist, was geschah. Vom Augenblick, dem Ausbruch, den sich niemand vorstellen kann, im Grauen und Normalen, aus dem ein solcher Tag besteht. Eine solche Straße.
Genauso wenig wie sie sich das vorstellen kann, kann sie sich daran erinnern. Aber sie weiß, hier wurde sie zum zweiten Mal geboren, freigesägt aus einem Leib aus Metall und Feuer. Zusammen mit Maud. Zum zweiten Mal.
Allein ist sie noch nie zur Welt gekommen.
Sie will weder etwas an dem Ort niederlegen noch etwas aufheben und mitnehmen. Jetzt, da sie mit dem Rücken dazu steht, ist sie immer noch unsicher, ob es wirklich hier geschah. Im Auto, fünfzig Meter entfernt auf einem Rastplatz, sieht sie schemenhaft das Gesicht von Maud.
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