Wenn wir verstehen wollten, was ein gutes Leben ausmacht, würden wir nicht sagen, dass Wohlbefinden nur vom Frühstück abhängt. Sicher ist es wichtig, gut zu frühstücken. Aber es gehört noch mehr dazu, um glücklich, gesund und erfolgreich zu sein. Wir würden auch nicht sagen, dass es für ein gutes Menschenleben reicht, auf die Toilette zu gehen. Klar, wenn man gar nicht mehr auf die Toilette gehen würde, würde man schnell gesundheitliche Probleme bekommen. Aber es gehört mehr zum Leben als Stuhlgang. Zu einem guten Menschenleben gehört Freund schaft ebenso wie Einsamkeit, Sport ebenso wie Schlaf, konzentrierte Arbeit genauso wie Zeit zum Entspannen und Erholen. Gut zu leben bedeutet nicht, sich auf einen Aspekt zu konzentrieren, sondern die gegensätzlichen Dinge gleichermaßen zu berücksichtigen und in Balance zu bringen. Ein gutes Leben ist wie ein Kreislauf, in dem jede Phase gleich wichtig ist. Wenn du den Schlaf auslässt, wirst du deine wachen Stunden nicht voll genießen können. Wenn du dich nicht aktiv für etwas engagierst, wirst du wahrscheinlich nicht besonders gut schlafen.
Genauso gehört zu den Komponenten, die zusammen die Fähigkeit ausmachen, Zugang zu ursprünglichen, kreativen Gedanken zu haben und sie zum Ausdruck zu bringen, jeder Aspekt des Kreislaufs, nicht nur ein Teil. Wie beim Wachen und Schlafen werden wir feststellen, dass die Elemente des Brillanz-Kreislaufs gegensätzlich zu sein scheinen und einander widersprechende Ziele zu haben scheinen.
Wir gehen jetzt die verschiedenen Phasen des Kreislaufs durch und erfahren die wichtigsten Merkmale jeder einzelnen. In nachfolgenden Kapiteln werden wir verstehen, warum wir sowohl Widerstände gegen als auch besondere Neigungen für verschiedene Phasen des Kreislaufs haben und inwiefern das problematisch für wahre Originalität ist. Wir werden außerdem viele Übungen und Regeln kennenlernen, die uns helfen, den Kreislauf jeden Tag, jede Woche, jedes Jahr und auch während des ganzen Lebens als kreatives Projekt zu durchlaufen.
12:00 Uhr: Erwachen
Wir starten oben, um 12:00 Uhr. Darüber haben wir schon im vori gen Kapitel begonnen zu sprechen: die Fähigkeit, „reines Bewusstsein“ zu erlangen, den Zustand des Bewusstseins, in dem es nicht auf äußere Objekte fixiert ist. Die Frage ist, wo die Blasen auf dem Grund des ColaGlases entstehen. Woher stammt ein Gedanke, der nicht einem früheren Gedanken, einer Überzeugung oder Feststellung entsprungen ist, sondern zum ersten Mal aufkommt?
Du weißt, es gibt nur diese zwei Möglichkeiten: Entweder bleibst du im Wiederholen recycelter Gedanken stecken, die wiederkäuen, was du gehört hast, einer zum anderen führend auf der Oberfläche des Sees, oder du lässt dich auf die größere Tiefe ein – du lernst, aufmerksam dort zu verweilen, wo Stille und die ersten Anfänge von Gedanken zusammentreffen.
12:00 Uhr ist im Kreislauf der Ort des Wachseins für das freie, reine Bewusstsein. Wir können es nennen, wie wir wollen, es gibt viele Bezeichnungen dafür. Es wird „wahres Wesen“, „reines Bewusstsein“, „Ursprung“ oder „Quelle“ genannt. Das wesentlichste Merkmal dieser Phase ist vielleicht, dass es keine Worte dafür gibt, dass es sich jenseits davon befindet. Aber um der Nomenklatur willen nennen wir es „Erwachen“.
Wenn wir diese Phase des Kreislaufs verstehen wollen, müssen wir uns mystischen Traditionen zuwenden und uns darauf verlassen. Ein Moment des Erwachens ist ein Moment, in dem die Aufmerksamkeit von der Gedankentätigkeit (und damit zugleich von der Zeit, denn wir erleben Zukunft und Vergangenheit nur in Gedanken) und dem reaktiven Gefühl zu dem wechselt, was sich der Gedanken gewahr ist. Gewahrsein von Bewegung ist bewegungslos. Gewahrsein von Lärm ist still. Gewahrsein von Grenzen und Einschränkungen ist in sich selbst grenzenlos.
Die Erkenntnis vom Wesen des Bewusstseins selbst, vom Wesen der Bewusstheit, des Gewahrseins, wurde in den mystischen Traditionen aller Kulturen an verschiedenen geografischen Orten und zu verschiedenen Zeiten erlangt. Jede religiöse Tradition hat ihren Ursprung in dieser Erfahrung der „Erweckung“ und des „Erwachens“.
Erwachen ist kein Weg zur Erleuchtung
Es gibt zwei unterschiedliche Vorstellungen von „sich auf einem Weg befinden“, die einen riesigen Unterschied ausmachen: entweder eine Rei se zu einem zukünftigen Zustand des Erwachtseins – oder die Aufmerksamkeit darauf zu richten, was jetzt in diesem Moment schon erwacht und damit bewusst ist. Betrachtungsweisen, die aus der Vorstellung abgeleitet sind, auf einem Weg mit einem zukünftigen Ziel zu sein, unterscheiden sich grundsätzlich von jenen, die auf einer unmittelbaren Neugier an der Erfahrung des gegenwärtigen Moments beruhen.
Es handelt sich um zwei völlig verschiedene Sichtweisen, die leicht miteinander verwechselt werden. Ein Moment des Erwachens ist nur möglich, wenn wir die Annahme eines zukünftigen Zustands der „Erleuchtung“ aufgeben. Ansonsten ist unsere Aufmerksamkeit gefangen in der Erwartung eines zukünftigen Zustands oder der Vorstellung eines anderen angestrebten Zustands und nur ein Rest von Aufmerksamkeit bleibt neugierig auf das, was gegenwärtig wirklich ist.
Die Erkenntnis unseres „wahren Wesens“ kann als ein Zustand der Meditation gedacht werden. Die Bedeutung von Meditation wurzelt im Sanskritwort dhyana, was übersetzt „kein Geist/kein Verstand“ heißt und sich auf einen Zustand des Bewusstseins bezieht, in dem gesteigerte Wachsamkeit herrscht und Gedanken, die kommen und gehen, keine Aufmerksamkeit geschenkt wird. Es bedeutet, die Aufmerksamkeit von geistiger Aktivität auf die Stille zu lenken. Es ist, als würde man die Aufmerksamkeit von den Wellen auf der Oberfläche des Ozeans auf das Nass des Ozeans selbst richten.
Das Wichtige an diesem reinen Bewusstsein ist, dass es keinerlei unterscheidende Eigenschaften hat, die in Zeit und Raum gemessen werden können. Es ist weder männlich noch weiblich, es hat kein Alter, weder ein Geräusch noch eine Vibration ist damit verbunden, es hat kein Glaubens system, keine Überzeugung und keine Präferenz. Es ist einfach bewusst.
Reines Gewahrsein zu erreichen ist weder angenehm noch schmerzlich. Manchmal widersprechen Menschen dieser Aussage und berichten, dass sie in der Meditation „glückselige Zustände“ erfahren hätten. Wir werden später noch sehen, warum das so sein kann. Im reinen Gewahrsein zu ruhen ist für die mentalen und emotionalen Vorgänge, die normalerweise unser Leben bestimmen, völlig belanglos. Diese sind auf Vergnügen (mehr Stoff, mehr Macht, mehr Sicherheit, mehr Intimität, mehr sexuelle oder emotionale Stimulation, mehr von fast allem, was die Ausschüttung von Dopamin und Serotonin im Gehirn anregt) und Vermeidung von Schmerz ausgerichtet (weniger Unsicherheit, weniger Schwäche, weniger Einsamkeit, weniger ungewollte physische und emotionale Erfahrung, die eine Vielzahl von Neuropeptiden im Gehirn anregen, die mit Schmerz verbunden sind).
Im Kreislauf ist 12:00 Uhr die Phase mit folgenden Merkmalen: flach, still, ruhig, leer, kein Ich-Gefühl, mühelos, keine Grenzen, unendlicher Raum, zeitlos (siehe die Skizze auf der nächsten Seite). Jedoch: Die genaue Beschreibung eines guten irischen Whiskeys kann niemals einen Tropfen auf der Zunge – den wirklichen Geschmack – ersetzen.
3:00 Uhr: kreativer Flow
Aus dem Nichts, aus unendlichem Raum und Stille sprießen ursprüngliche Impulse, die nicht das Ergebnis vorhergehender Gedanken und Entscheidungen sind. Subjektiv erscheint es, als würde man geduldig warten und zulassen, dass Impulse von selbst entstehen. Diese feinen Vibrationen beginnen eine Sekunde nach 12:00 Uhr und nehmen allmählich an Intensität und Schwung zu, während sie den ersten Teil des Kreislaufs durchlaufen. Der Höhepunkt kreativer Schwingungen ist um 3:00 Uhr erreicht.
Читать дальше