Hierzu eine nützliche Parallele aus der Physik: Die erste Art Gedanken, die wir hier als recycelte, imitierende beschrieben haben, ist in etwa vergleichbar mit der Art, wie Isaac Newton das Universum als berechenbar erkannte und grundlegende Gesetze formulierte. Newton saß unter einem Baum, als er einen Apfel auf den Boden fallen sah. Ihm wurde klar, dass es eine unsichtbare Kraft gab, die bewirkte, dass der Apfel fiel. Seine Erkenntnis war die Basis physikalischer Berechenbarkeit. Wenn man das Gewicht des Apfels kennt, den Windwiderstand, die Entfernung des Apfels vom Boden, kann man genau die Stärke des Aufpralls berechnen, mit der der Apfel den Boden trifft. Genauso wird bei einem Autounfall ein Versicherungsgutachter die Fahrzeuge untersuchen. Du könntest sagen: „Ich bin sehr langsam gefahren, weniger als 50 km/h.“ Aber der Gut achter könnte dir antworten: „Auf der Grundlage des Verbiegungsgrades des Metalls können wir berechnen, dass das Auto 80 km/h gefahren ist.“ Erwischt! Wir nehmen das Universum so wahr, dass es mit unseren Erwartungen von Berechenbarkeit übereinstimmt.
Mit unseren Gedanken und den Gedanken unserer Nächsten ist es meistens genauso. Sobald du jemanden ziemlich gut kennst, kannst du mehr oder weniger vorhersehen, wie diese Person reagieren wird und was sie als Nächstes sagen wird, weil unsere Gedanken ebenfalls auf berechenbare Art ablaufen. Du kannst vorhersehen, dass ein Gedanke einen anderen hervorrufen wird und dass ein bestimmter Reiz eine bestimmte Reaktion erzeugen wird. Das ist die Wissenschaft der Vorhersagbarkeit, die Isaac Newton begründet hat.
In den letzten 80 Jahren haben wir die Entwicklung einer anderen Art von Physik beobachtet: die Quantenphysik. Sie beschäftigt sich mit den kleinsten Bausteinen der Materie, den subatomaren Teilchen, aus denen sich Atome zusammensetzen, und dann Moleküle und dann all die Dinge, die wir kennen. Subatomare Teilchen verhalten sich nicht so wie die physikalische Welt, an deren Berechnung wir gewohnt sind. Unter den Alpen, in einem Vorort von Genf in der Schweiz, unterhält das Europäische Kernforschungszentrum CERN den großen Hadronen-Speicherring (LHC), den größten Teilchenbeschleuniger der Welt. Er besteht aus einem 27 Kilometer langen Ring supraleitender Magneten mit einer Anzahl von Beschleunigungsstrukturen, um die Energie der Teilchen unterwegs zu erhöhen. In einem Experiment schossen die Forscher ein subatomares Teilchen durch den Teilchenbeschleuniger, in dem Vakuum herrscht. In der Mitte des langen Tunnels befand sich eine Bleiwand mit zwei Schlitzen. Man würde annehmen, dass das subatomare Teilchen einen der beiden Schlitze passiert, bevor es an seinem Ziel am anderen Ende des Tunnels ankommt. Tatsächlich ergaben die Messungen jedoch (die seitdem viele Male wiederholt wurden), dass das Teilchen beide Schlitze gleichzeitig passiert hat. Das bedeutet, dass es sich in der Mitte des Tunnels wie eine Welle verhalten hat, während es sich am Anfang und am Ende wie ein Teilchen verhalten hat. Der deutsche Physiker Werner Heisenberg sagte diese Ergebnisse bereits in den 1930er-Jahren in seiner „Unschärferelation“ voraus.
Subatomare Physik zeigt uns, dass die kleinsten Elemente, aus denen Materie besteht, zugleich Teilchen und Wellen sind. Das bedeutet, dass ein subatomares Teilchen einen Ort in Zeit und Raum hat, wenn es gemessen werden soll, aber eigentlich eine Welle ist, die überall zugleich ist. Heisenberg sagte voraus, dass die Erscheinung als Teilchen zum Teil dem Bedürfnis des Wissenschaftlers nach Messbarkeit entspringt. Ohne dieses Bedürfnis nach einem Ort in Zeit und Raum werden die Teilchen wellenartig. Man nennt das den „Observer-Effekt“.
Bruno Sciolla ist einer unserer geprüften Awakening Coachs und zugleich außerordentlicher Professor, der an der Universität von Lyon in Frankreich Quantenphysik lehrt. Nach dem Ende eines unserer Kurse in Deutschland blieben Bruno und ich noch im Seminarzentrum. Wir trafen uns in der Sauna und sprachen fast fünf Stunden über Quantenphysik. Am Ende waren wir sehr runzelig. Ich fragte Bruno, was sich am Verständnis des Teilchen-/Wellencharakters subatomarer Teilchen verändert hatte, seitdem Heisenberg in den 1930er-Jahren zum ersten Mal seine Erkenntnis formuliert hatte. Brunos Antwort war: „Wir dachten immer, dass diese Welleneigenschaft nur auf subatomare Teilchen zutrifft. Jetzt wissen wir, dass sie für alles gilt. Alle Elektronen, Protonen, Quarks und Gluonen verhalten sich wie Teilchen, wenn wir versuchen, sie zu berechnen, aber sonst haben sie die Eigenschaften von Wellen. Das bedeutet, dass alles überall ist und alles immer existiert. Die Dinge werden nur fest an einem Ort in Raum und Zeit aufgrund unseres Bedürfnisses, sie so zu betrachten.“
Newtonsche Physik und die Quantenphysik untersuchen genau diesel be physische Welt. Die eine betrachtet die Dinge als berechenbar und körperlich, mit einem festen Ort in Zeit und Raum. Die andere erkennt, dass alles aus einem einheitlichen Feld entsteht, nur kurz als etwas Festes erscheint und sich dann wieder in das einheitliche Feld auflöst. Es ist genau dasselbe physikalische Universum, das auf beide Arten berechnet wird, nur auf verschiedene Weise betrachtet.
Wie lässt sich das auf unser Modell horizontaler und vertikaler Gedanken anwenden? Horizontale Gedanken verhalten sich auf newtonsche Weise. Sie sind vorhersagbar, wiederkehrend, größtenteils, weil unsere Sehgewohnheiten es verlangen. Vertikale Gedanken kommen als kleinste
Impulse aus dem Nichts, wo vorher nichts war, nur ein einheitliches Feld der Leere und Formlosigkeit. Vertikale Gedanken erscheinen, ohne durch etwas Vorhergehendes angestoßen worden zu sein. Sie sind „von selbst entstanden“. Sie erscheinen und steigen in Bläschen an die Oberfläche, Gedanken, die noch nie zuvor gedacht worden sind. Sie werden zu Worten, die nie zuvor gesprochen wurden, zu Handlungen, die nie zuvor getätigt wurden. Sie werden Lieder, die nie zuvor gesungen wurden. Sie sind die Saat radikaler Brillanz und Meisterschaft.
Durch Üben können wir lernen und trainieren, sensibler für diese subtilen Ereignisse im Bewusstsein zu sein, die die Saat originaler Brillanz sind. Genauso wie Quantenphysik die newtonsche Physik verändert hat, bedarf es Neugier und der Bereitschaft, auf die kleinsten Bauteile des Bewusstseins zu achten, um radikal brillant zu werden.
Im nächsten Kapitel werden wir erfahren, wie diese Art Wachsamkeit in unser Leben integriert werden kann, sodass Brillanz kein Zufall ist, sondern der Grund, warum wir leben. Später werden wir ganz praktische Instrumente kennenlernen, um die ungeheure Kraft auf den subtilen Ebenen geistiger Aktivität zu nutzen.
KAPITEL 4
Der Brillanz-Kreislauf
Wir wollen uns jetzt genauer damit beschäftigen und den Mechanismus betrachten, durch den es uns immer vertrauter wird, originale Gedanken aufzugreifen, wenn sie als frischer Impuls aus dem reinen Bewusstsein erscheinen.
Es gehört eine ganze Menge dazu. Es ist nicht nur eine Sache von „sich hinsetzen und eine bestimmte Technik für zehn Minuten am Tag anwenden“. Radikale Brillanz erfordert eine Kombination von Mechanismen, zu denen nicht nur eine Reihe verschiedener Praktiken gehört, die in verschieden Phasen anzuwenden sind, sondern auch ein tiefes Verständnis, warum unsere Kreativität blockiert ist und wie wir sie wiederherstellen können. Viele der Gewohnheiten, die wir von religiösen und philosophischen Traditionen, von unserem politischen und sozialen System und unserer Erziehung übernommen haben, stören auf die eine oder andere Weise den freien Fluss ursprünglichen kreativen Ausdrucks.
Seit fast 25 Jahren leite ich Menschen dazu an, ihre „einzigartige Gabe“ zu entdecken und auszudrücken. Während dieser Zeit habe ich festgestellt, dass der Mechanismus, der leichten, wiederholten Zugang zu ursprünglichen Gedanken ermöglicht, kein einzelner ist, sondern ein Ablauf, der ständig wiederholt werden muss. Um das zu erklären, benutze ich als Analogie das Zifferblatt einer Uhr, mit 12:00 Uhr oben, 3:00 Uhr rechts, 6:00 Uhr unten und 9:00 Uhr links. Diese Analogie impliziert praktischerweise, dass eine unendliche Anzahl von Punkten zwischen den Polen liegt, sodass wir ein schrittweises, kontinuierliches Vorrücken erkennen können.
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