Irgendwann jedoch war auch jeder recycelte Gedanke original, frisch, neu und brillant. Zu irgendeinem Zeitpunkt muss er zum ersten Mal gedacht worden sein, ohne Vorläufer. Wenn du zum Beispiel mit dem Christentum als Religion in deiner Familie aufgewachsen bist, hast du wahrscheinlich den Spruch gehört: „Seht euch die Lilien an: Sie arbeiten nicht und spinnen nicht. Doch ich sage euch: Selbst Salomo war in all seiner Pracht nicht gekleidet wie eine von ihnen.“ Diese Worte sind aus der Bergpredigt. Wie viele Male, glaubst du, sind sie wiederholt und zitiert worden, seitdem die King-James-Bibel 1611 gedruckt wurde? An einem Tag ungefähr im Jahr 30 n. Chr., als Jesus mit seinen Jüngern auf einem Berg saß, begann er völlig unerwartet: „Selig sind die, die arm sind vor Gott, denn ihnen gehört das Himmelreich.“
„Das gefällt mir, Jesus“, erwiderte Simon. „Sprich weiter …“
Da machte Jesus eine weitere kostbare Bemerkung übers Trauern.
„Ausgezeichnet!“, sagte Andreas.
„Fantastisch!“, rief Jakobus.
„Glücklich zu preisen sind die Sanftmütigen“, fuhr Jesus fort und fühlte sich ermutigt. Jetzt wurden auch Johannes und Philippus munter.
„Ja. Das ist gut. Sprich weiter.“
„Denn sie werden die Erde als Besitz erhalten.“
„Ganz richtig!“, stimmten alle gleichzeitig zu.
Auf diese Weise fuhr Jesus fort, Sanftmut, Barmherzigkeit und Reinheit des Herzens anders zu betrachten als üblich, während alle zwölf Jünger und andere Freunde begeistert reagierten. Du kannst dir vorstellen, dass die Menge außer Rand und Band war, als er zu der Stelle mit den Lilien kam. Alle jubelten, klatschten und pfiffen. Das muss ein vollkommen unvergleichlicher, brillanter Moment gewesen sein. Atemberaubend. Aber wenn man es hunderttausendmal gehört hat, ist es schon etwas angestaubt. Die bloße Wiederholung nimmt den Worten ihre Brillanz. Dasselbe gilt für die Worte, die Buddha am Ende seines Lebens zu seinem Freund und Schüler Ananda sprach: „Sei dir selbst ein Licht.“ Du kannst dir vielleicht vorstellen, dass Ananda sich in dem Moment vollkommen verwandelt fühlte. Aber sobald die Worte oft genug recycelt wurden, haben sie ihre Kraft verloren.
Es gibt aber diesen einen Moment, wenn ein Ereignis im Bewusstsein zum ersten Mal stattfindet, ohne Vorgänger. Woher kommt ein Gedanke, der nichts wiederholt oder recycelt? Ein Schaubild kann das verdeutlichen: Du kannst dir recycelte Gedanken horizontal vorstellen, wie kleine Blasen, die auf der Oberfläche eines Sees treiben. Ein Gedanke führt zu einem anderen, der zu einem anderen führt, der zu einem anderen führt. Jedem Gedanken geht einer voraus.
Ein originaler Gedanke entsteht nicht an der Oberfläche des Sees, sondern in der Tiefe. Wir können das einen vertikalen Gedanken nennen. Er entsteht auf dem Grund des Sees und steigt in größer werdenden Bläschen an die Oberfläche. Gedanken, die so entstehen, beginnen als äußerst subtile, feine Impulse, aber wenn sie an die Oberfläche steigen, werden sie lebendiger und deutlicher.
Sobald wir beginnen, den Unterschied dieser zwei Arten von Gedanken zu akzeptieren, kann es sein, dass wir uns fragen, warum so viele Menschen das Nachahmen und Wiederholen wählen, wenn es doch die Möglichkeit der Innovation gibt.
Dazu führte ich ein inspirierendes Gespräch mit Barnet Bain, er ist Filmproduzent und Autor und unterrichtet in Columbia Kunst und Spiritualität. Er sagt: „Die Möglichkeit, sich zu entfalten, sodass wir etwas wahrnehmen und konzipieren können und unsere Kreativität entwickeln können, ist in uns allen angelegt. Es ist in das eingebrannt, was ein menschliches Wesen ausmacht. Auf die Art jedoch, wie wir insbesondere in jungen Jahren aufgewachsen und konditioniert worden sind, werden wir durch andere Menschen „kodiert“ – mit deren Gedanken und Gefühlen, Wahlen, Mustern und Glaubenssätzen, mit ihrer Musik und Kunst und Urteilen darüber, was Kreativität ist. Eine Konsequenz daraus ist, dass unsere unermessliche Beziehung zu Wahrnehmungsvermögen und Vorstellungsgabe in eine winzige Perspektive gepresst worden ist, die wir „kreativ“ nennen und die noch dazu nur für eine bestimmte Sorte Menschen reserviert ist. Wir wurden dahin geführt zu glauben, dass Kreativität einen begrenzten Umfang an Ausdrucksweisen kennt, der sich lediglich auf die sieben schönen Künste bezieht.“
Bain fährt fort: „Aber Kreativität ist Bewusstseinsarbeit: Es gibt nichts, was unkreativ ist – keine Handlung, keinen Gedanken, kein Gefühl, keine Wahl, keine Entscheidung, keine Einstellung – nichts von alledem ist in irgendeiner Weise unkreativ. Durch die Wirksamkeit unserer eingeprägten Konditionierungen, entziehen wir uns selbst einfach den wahren innovativen Erkundungen. Wir jagen denen nach, die ‚an erster Stelle stehen’, um zweiter zu sein und imitieren andere. Wir begrenzen sowohl unsere Wahrnehmung als auch unser Empfangen auf die Art und Weise wie wir es bei anderen sehen. Es ist ein gewaltiger Bewusstseinssprung, überhaupt zu verstehen, dass das, was wir für freien Willen und Möglichkeit halten, in Wirklichkeit die Produkte von Konditionierungen und Inputs außerhalb unseres Selbstes sind. Erst dann können wir beginnen zu erforschen, was wirkliche Erkenntnis und wahres Empfangen ist. Und wir können uns fragen: ‚Was kann ich empfangen, was jenseits meiner Glaubenssätze, jenseits meiner Muster und konditionierten Ideen liegt – jenseits dessen, was ich von anderen übernommen habe?’“
Woher stammen die Blubberbläschen?
Wo also entstehen Gedanken, die nicht einem anderen Gedanken entspringen? Wenn wir diese Frage zusammen durchdringen können, werden wir besser verstehen, wie radikale Brillanz und Meisterschaft funktionieren.
Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich als Siebenjähriger in der Schule einen Preis für das Vorlesen eines Gedichtes gewann – es war ein Buch, das noch heute in meinem Regal steht. Meine Mutter war so stolz auf mich, dass sie mich nach der Preisverleihung ins „Dionysos“, ein griechisches Restaurant bei uns am Ort, zu Baklava und Coca Cola einlud. In den frühen 1960ern war Coca Cola in England noch nicht so verbreitet – nicht so wie in Amerika –, ich hatte es jedenfalls noch nie getrunken. Das war eine große Sache. Der Kellner brachte die Cola und stellte sie vor mich auf den Tisch. Ich blickte fasziniert auf mein Glas und die aufsteigenden Blubberbläschen, die an der Oberfläche zerplatzten. Sie fingen am Boden des Glases ganz klein an und wurden beim Aufsteigen größer. Mir schmeckte das Getränk nicht besonders und am Abend wurde mir sogar übel – ich habe seitdem keine Cola mehr getrunken! Fasziniert hatte mich jedoch, woher die Bläschen stammten. Sie schienen vom Boden des Glases zu kommen und ich sah unter dem Glastisch nach, an dem wir saßen. Da war jedoch nichts – keine Möglichkeit, wie die Blasen von unterhalb des Tisches ins Glas gelangen konnten. Woher kamen sie dann?
Den Ursprung eines originalen brillanten lebensverändernden Gedankens zu untersuchen ist ganz ähnlich. An der Oberfläche sind Worte, Bilder, Musik und neue Erfindungen, die ins Leben „platzen“. Unter der Oberfläche sind Gedanken – Ereignisse im Bewusstsein – ziemlich klar formuliert. Tiefer unten sind feinere, subtilere Gedanken. Noch tiefer sind feinste Impulse, kaum wahrnehmbar. Noch tiefer liegt die Quelle, von der diese Impulse ausgehen.
Genau wie bei meiner Cola im Restaurant bleibt die Quelle dieser feinsten Impulse geheimnisvoll und faszinierend. Wenn wir herausfinden, wie wir für die Vorgänge auf diesen feinsten Ebenen der Aktivität bewusster und sensibler werden, werden wir meisterlich darin, die Kraft authentischer Kreativität an ihrer Quelle zu nutzen. Wir gewinnen ein tieferes Verständnis vom Ursprung radikaler Brillanz und haben leichter Zugang dazu.
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