Martin Schaub - Das Rütli - ein Denkmal für eine Nation?

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Inwiefern sind Denkmäler Orte des informellen Geschichts-Erlebens und -Lernens? Konkret: Welches Wissen, welche Vorstellungen bringen Besucherinnen und Besucher mit? Wie nehmen sie das Denkmal wahr? Wie eignen sie sich den Ort an? Was nehmen sie mit? Die vorliegende Untersuchung fragt – am Beispiel des Rütlis – nach dem individuellen und kollektiven Umgang mit einem Denkmal und zugleich nach dessen Gebrauch und Instrumentalisierung. Die im chronologischen Längsschnitt beobachtbare geschichtskulturelle Dynamik prägt auch die Denkmalgestaltung. Deren detaillierte Analyse und Deutung zeigt, wie und mit welcher Wirkungsabsicht der Schauplatz des Gründungsmythos inszeniert wurde und wird, und wie sich Gestaltung und Gebrauch gegenseitig beeinflussen.

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Herfried Münkler seinerseits fokussiert in seiner grundlegenden Studie zu den deutschen Mythen auf die Wirkungsweise, den Gebrauchsaspekt der politischen Ursprungs- und Bewährungserzählungen.[18] Sie bilden die symbolische Grundlage eines Gemeinwesens und wirken auf das identitätsstiftende kollektive Gedächtnis ein – und umgekehrt: Politische Entwicklungen können dazu führen, dass sich Narrative verändern. Solche Prozesse manifestieren sich in drei verschiedenen Formen, der erzählten Form, also der Narration, der architektonischen, dem Denkmal, sowie der ritualisierten, dem Fest, eine Trias, die derjenigen von Hettlings «Erlebnisraum» entspricht.[19] Grundsätzlich stellt Münkler fest, dass ein Mythos seine Kraft nur zu entfalten vermöge, wenn er in allen drei Formen seinen Ausdruck erhalte. Greifen nun politische Akteure die bestehende Ordnung an, erringen die Macht oder scheitern an der etablierten, kann sich dies darin niederschlagen, dass Denkmäler gestürzt oder umgestaltet, Rituale neu geformt, mythische Narrationen neu erzählt werden. Dabei kommt Letzteren eine zentrale Funktion zu. Ihnen fehlen feste Konturen, weshalb sie in Form und Bedeutung wandelbar, also narrativ variabel sind.[20] Es ist genau diese Veränderbarkeit, so die Hypothese Münklers, durch welche die Narrative eher Veränderungen befördern resp. nachzeichnen, während Bilder und Denkmäler sowie die mit dem Mythos verbundenen Feste einen überwiegend bewahrenden Charakter haben. Umgekehrt vermögen gerade in einem demokratischen Staatswesen führende politische Schichten eher die ikonische Verdichtung und rituelle Inszenierung zu beeinflussen als die Erzählungen, deren Verfügbarkeit nicht eingeschränkt werden darf. Wenn die erzählten Mythen hingegen ihre Kraft verlieren – solche Prozesse können zäsurartig rasch oder erodierend langsam verlaufen –, büssen der Ort und auch die praktizierten Rituale ihre Bedeutung ein. Diese von Münkler beschriebenen Mechanismen sind direkt anschlussfähig an Hettlings Konzept des «Erlebnisraums» und dienen ebenfalls als theoretisches Raster für die Denkmalanalyse.

1.3 Theoretische Rahmung III: Geschichtskultur und Geschichtsbewusstsein

Die erwähnte Geschichtskultur stellt die dritte theoretische Erweiterung dar. Geschichtskultur bezeichnet die Art und Weise, wie eine Gesellschaft mit Vergangenheit und Geschichte umgeht.[21] Definitorisch prägend ist Rüsen, der an der Deutungsfunktion von Kultur in modernen Gesellschaften anknüpft.[22] Schönemann nimmt das Modell von Rüsen auf, kritisiert daran jedoch die anthropologische Verengung sowie die fehlende Historisierung der Dimensionen und gibt dem Modell in zweifacher Hinsicht eine wesentlich neue Richtung. Erstens definiert er vier geschichtskulturelle Dimensionen mit kommunikationstheoretischem Fokus, um das Konzept operationalisierbar zu machen.[23] Er unterscheidet die institutionelle Dimension (Rahmen geschichtskultureller Praxis wie Schulen, Archive, Museen etc.), die professionelle Dimension (spezifische Akteure wie Lehrpersonen, Wissenschaftler, Künstler etc.), die mediale Dimension (Vermittlungsformen wie Buch, Film, Lied etc.) sowie die adressatenspezifische Dimension (Adressaten geschichtskultureller Phänomen wie Schichten, Ethnien, Berufe etc.). Demantowsky nimmt diese Differenzierung auf, plädiert jedoch gleichzeitig dafür, dass die institutionelle Dimension den anderen heuristisch übergeordnet sei: die Institutionalität der Geschichtskultur sei ihr eigentliches, ihr empirisch evidentes Dasein.[24] Die vorliegende Studie läuft dieser Hierarchisierung entgegen, indem sie auch nach empirischer Evidenz im Diskurs fragt sowohl in der medialen als auch in der adressatenspezifischen Dimension.

In einem zweiten Schritt grenzt Schönemann die Kategorie der Geschichtskultur, die «Aussenseite des gesellschaftlichen Geschichtsbewusstseins», ab von derjenigen des individuellen Geschichtsbewusstseins, unterscheidet also ein kollektives Konstrukt von einem individuellen.[25] Mehrere Modelle liegen vor, welche die Eigenschaften des Geschichtsbewusstseins generell beschreiben, insbesondere die strukturanalytischen Modelle von Jeismann und Pandel, das genetische Modell von Borries’ sowie der funktionstypologische Ansatz von Rüsen.[26] Pandel strukturiert das als mentale Struktur bezeichnete Geschichtsbewusstsein in sieben Doppelkategorien, Doppelkategorien deshalb, weil er jede Kategorie antagonistisch auffächert. Den drei Basiskategorien Temporalbewusstsein (gestern – heute – morgen), dem Wirklichkeitsbewusstsein (real – fiktiv) und dem Historizitätsbewusstsein (statisch – veränderlich) stehen die fünf sozialen Kategorien gegenüber mit Identitätsbewusstsein (wir – sie), politischem Bewusstein (oben – unten), ökonomischem Bewusstsein (arm – reich) sowie moralischem Bewusstsein (richtig – falsch).[27] Rüsen seinerseits zielt darauf ab, manifestiertes Geschichtsbewusstsein in Form erzählter Geschichten funktionstypologisch zu ordnen. Dabei unterscheidet er vier Typen des historischen Erzählens, den traditionalen, den exemplarischen, den genetischen und den kritischen, mit je unterschiedlichen Erinnerungsleistungen, Kontinuitätsvorstellungen, Kommunikationsformen, Identitätskonstruktionen und Sinnbildungsmustern.[28] Von Borries visualisiert Rüsens Sinnbildungstypen in Form eines Spiralmodells, das die Typen in eine Entwicklungslogik stellt, entlang der Faktoren der Flexibilisierung und Individualisierung historischen Denkens.[29] Das Modell führt vom traditionalen über das exemplarische hin zum genetischen Erzählen, jeweils in einer affirmativen und einer kritischen Ausprägung, und entspricht damit der von Rüsen selbst angeführten Sonderstellung der kritischen Sinnbildung.[30] Im vorliegenden Projekt folgt die Analyse der geschichtlichen Vorstellungen der Rütli-Besuchenden einerseits dem funktionstypologischen Modell von Rüsen und andererseits dem strukturanalytischen nach Pandel.

Jeismann hatte bereits Ende der 1970er-Jahre als Erster ein strukturanalytisches Modell von Geschichtsbewusstsein entworfen, das auf drei unterscheidbaren Dimensionen der Erkenntnisleistung basiert, auf Analyse, Sachurteil und Wertung.[31] Dieses Konzept erweiterte er in der Folge und definierte Geschichtsbewusstsein als Reifegrad, der sich ganz wesentlich durch Reflexivität auszeichne.[32] Defizitäre historische Vorstellungen, welche diesen Grad nicht erreichen, bezeichnete er als «Geschichtsverlangen», «Geschichtsbild» und rein vergangenheitsbezogenes «historisches Verstehen». Das «Geschichtsbild», also eine im Vergleich zu geschichtswissenschaftlichen Darstellungen und Konzeptionen defizitäre Vorstellung, hat er an anderer Stelle definiert als eine individuelle und kollektive, gefestigte Gesamtvorstellung von Sinn, Wesen, Verlauf und Ziel der Geschichte.[33] Im Kontrast zu geschichtswissenschaftlichen Narrativen seien diese Vorstellungen, so Rolf Schörken, einerseits faktenarm und selektiv, andererseits urteilend, deutend, emotional.[34] Damit deckt sich auch Demantowskys Definition, die zusätzlich auf die narrative Abrufbarkeit hinweist, die gerade im vorliegenden Projekt von besonderer Bedeutung ist.[35] Vergleichbare Eigenschaften geschichtlicher Vorstellungen hat auch die Conceptual-Change-Forschung festgestellt. Als besonders wirkmächtig haben sich geschichtsbezogene implizite Theorien resp. Alltagstheorien erwiesen.[36] Diese lebensweltlich geformten Konzepte weisen typische Merkmale auf, die sie von wissenschaftsförmigen Inhalten unterscheiden, so beispielsweise die Personalisierung von Kollektiva und Strukturen (grosse Männer und Frauen) resp. Reduktion historischer Sachverhalte auf grosse Personen, monokausale Erklärungen, linear-eindimensionales Denken, die Personifizierung abstrakter Kategorien, die Stereotypisierung sozialer Ordnungsschemata, ein dominierender Gegenwartsbezug, der sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft prägt, sowie die Verkürzung der Vergangenheit auf ein allgemeines «früher». Solche Merkmale impliziter Theorien dürften auch in den geschichtlichen Vorstellungen nachweisbar sein, wie sie im vorliegenden Projekt erhoben werden. Im Fall des Rütlis beziehen sich diese Vorstellungen auf die mit dem Ort zusammenhängenden Mythen. Für die Analyse zu berücksichtigen ist daher der Umstand, dass sich die Merkmale mythischer Narrative und subjektiver Theorien teilweise überschneiden, wie beispielsweise der generalisierende Vergangenheitsbezug oder die stereotypisierenden, sozialen Konstellationen.[37]

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