Dass es dafür im Judentum spezielle Regeln gibt, muss mir mittlerweile nicht mehr extra erzählt werden. Die Organisation eines jüdischen Begräbnisses übernimmt in Österreich nicht ein Bestattungsunternehmen, sondern die Israelitische Kultusgemeinde. Im sogenannten Tahara-Raum wird der Leichnam gewaschen. Tahara ist das Wort für Waschung. Danach kommt der oder die Tote in ein schlichtes Totengewand aus weißem Leinen. Der Sarg ist ein anspruchsloser Holzsarg, er soll auf keinen Fall prunkvoll ausfallen. Auch dadurch wird dem Gedanken Ausdruck verliehen, dass vor Gott alle Toten gleich sind.
Wie das Begräbnis selbst abläuft, hat mir davor schon Jiri Schreiber, der hier am jüdischen Friedhof seit 1970 Steinmetz ist, in seiner Werkstatt erklärt. Es ist im Grunde dem christlichen Begräbnis sehr ähnlich, es gibt allerdings keine große Anzahl von Grabrednern. In der Aufbahrungshalle spricht lediglich ein Rabbi oder ein Oberkantor über das Leben des Verstorbenen. Danach begleitet die Trauergemeinde den Toten zu seinem Grab. Hier wird nicht wie im Christentum nur ein kleines Schäuflein Erde von den Angehörigen auf den Sarg geworfen, nein, das Grab wird von der Trauergemeinde gleich komplett zugeschüttet. Zu einer zweiten Zeremonie kommt es meistens ein knappes Jahr später, bei der Enthüllung des Grabsteins, sagt mir der Steinmetz. Die beiden hebräischen Zeichen für »Hier ruht« müssen dabei auf dem Grabstein sein. In vielen Fällen wird auch der Name des Verstorbenen auf Hebräisch in Stein gemeißelt. Auf meine Nachfrage, ob seine Arbeiter denn Hebräisch können müssen, lächelt der ältere Herr mit weißem Bart und sagt: »Nein, dafür gibt es zum Glück Schablonen.«
Die Frage des Begräbnisses wäre also geklärt, nun stelle ich aber Chaim Tetruashvili die entscheidenden Fragen jeder Religion: »Wie geht es nach dem Tod weiter? Wie sieht das Jenseits aus?« Der sympathische Friedhofsleiter gibt mir zu meiner Überraschung zunächst die einzig richtige Antwort auf solche Fragen: »Ich kann es nicht genau sagen, ich war ja noch nie dort.« Nach einem kurzen Lachen von uns beiden fährt er fort: »Der Tote kommt danach vor Gott, dort wird ihm das Leben noch einmal wie in einem Film vorgeführt. Nichts wird ausgelassen, weil Gott alles sieht und mitbekommt. Und nach diesem Film gibt es ein Gericht. Dort wird über gute und böse Taten geurteilt.«
Auf meine Nachfrage, ob es einen genauen Strafenkatalog gibt, wie zum Beispiel: ein Seitensprung bedeutet ein Jahr Hölle, bekomme ich zunächst ein Kopfschütteln als Antwort: »Wir wissen nicht genau, für welche Taten es welche Strafen gibt. Aber wir versuchen, hier auf Erden eben so gut wie möglich zu leben. Jeder hat seine schlechten Seiten, selbst ein Rabbi, und dafür müssen wir im Jenseits büßen. Aber wir glauben auch fest daran, dass schlussendlich jeder erlöst wird.«
»Und wie sieht es mit der Wiederauferstehung der Toten aus? Wann passiert die?«, frage ich. »Wenn der Messias kommt«, antwortet Chaim. »Allerdings ist es eine schwierige Frage, was mit denen passiert, die zu diesem Zeitpunkt leben. Dürfen die einfach so weiterleben, ohne vor ein Gericht zu kommen?«
Eines ist allerdings für die gläubigen Juden klar: Wenn der Messias kommt, dann wird er das wohl im gelobten Land Israel tun. Auch aus diesem Grund veranlassen viele, dass sie nach ihrem Tod nach Israel überstellt werden. Es gibt auch den Brauch, dem Toten einen kleinen Sack mit Erde aus Israel beizugeben.
Auf jeden Fall ist es gut, wenn der Tote im Falle einer Wiederauferstehung alle seine Knochen zusammen hat. Davon handelt auch die Geschichte der Amputation zu Beginn dieses Kapitels. »Es sind auch keine Tattoos erlaubt, da wir Juden unseren Körper nicht verletzen dürfen.«
»Daher gibt es auch kein Krematorium bei Ihnen, oder?«, frage ich weiter. Der Friedhofsleiter nickt und antwortet: »Das ist strengstens verboten bei uns.« Der Steinmetz, der mit mir ins Verwaltungsgebäude gekommen ist, schaut erstaunt aus seiner tief ins Gesicht gezogenen Kappe raus. Er dachte, das Verbot der Einäscherung hat mit dem so traurigen Kapitel unserer Geschichte und den Verbrennungen der Juden während der Naziherrschaft zu tun. Aber unter dem Aspekt der Wiederauferstehung bekommen diese unbeschreiblichen Gräueltaten noch eine weitere tragische Seite.
Ich bedanke mich bei Chaim Tetruashvili für das Gespräch, ich bin nun wieder ein Stück schlauer geworden. Für mich geht es zurück, raus in die Kälte, aber die Sätze und Ausführungen lassen mich so schnell nicht los. Sie begleiten mich beim anschließenden Sparziergang durch den jüdischen Friedhof mindestens ebenso wie die eisige Kälte. Letztendlich geht es am Ende immer um einen selbst. Könnte ich mit so einem Jenseits leben? Der Glaube daran fällt mir ehrlicherweise nicht leicht. Wenn ich die ganze Zeit nachdenken muss, ob das, was ich gerade tue, gut oder schlecht ist und welche Auswirkungen es im Jenseits auf mich haben könnte, dann stehe ich gedanklich sozusagen schon mit einem Bein im Grab. Manchmal passiert das im Judentum ja wortwörtlich.
Gegen das Vergessen
Besuch im ehemaligen KZ Mauthausen
Ich möchte die Formulierung »göttliche Fügung« nicht leichtfertig verwenden, aber es ist erstaunlich, wie Ereignisse zueinander passen. Ausgerechnet gestern hatte der Oberrabbiner in seiner Torastunde Antisemitismus als Thema gewählt, als wollte er mich auf meinen heutigen Tag so gut wie möglich vorbereiten, den Besuch in der Gedächtnisstätte KZ Mauthausen.
Viel Schnee liegt in Mauthausen, als ich die Erinnerungsstraße zum Parkplatz hochfahre. Ich habe Angst vor dem, was mich in den nächsten zwei Stunden erwartet. Ich fürchte mich, mit diesem dunklen Kapitel österreichischer Geschichte konfrontiert zu werden. Ich war nie mit der Schule hier oder in einer ähnlichen Gedenkstätte, aber nun hole ich dieses Versäumnis nach. Im Eingangsbereich wartet Daniel Tscholl, ein langhaariger und bärtiger Mühlviertler, der mich in den nächsten zwei Stunden durch das ehemalige Konzentrationslager führen wird.
Daniel und ich gehen zunächst den verschneiten Weg entlang, der außerhalb an den Gebäuden vorbeiführt. Nach 200 Metern bleiben wir stehen, Daniel öffnet seine hellbraune Umhängetasche und holt Fotos und Pläne aus den Jahren des Zweiten Weltkriegs heraus. Anhand dieser Unterlagen veranschaulicht Daniel eindrucksvoll, dass Mauthausen kein abgeschotteter Ort war, über den die Außenwelt nichts wusste. Zu Beginn verübten die Nazis in Mauthausen ihre Verbrechen tatsächlich hinter versteckten Mauern, aber schon bald haben sie diese nach außen geöffnet. Daniel erklärt mir das am Beispiel der Fußballmannschaft. 1943 wurde mitten im KZ ein Fußballplatz erbaut und die Mannschaft Mauthausen hat hier in der Oberösterreichischen Landesliga gespielt. Hunderte Fans sind jeden zweiten Sonntag vom Dorf raufgekommen, um bei Würstel und Bier die »beste Mannschaft, die Mauthausen je hatte«, wie ein Zeitzeuge von damals sagt, anzufeuern, während wenige Meter hinter dem Platz die KZ-Insassen im Krankenlager verstorben sind. Nichts war versteckt, das alles war gut sichtbar. Von der Tribüne aus hatte man einen guten Einblick auf das Krankenlager. Daniel zeigt mir auf der Karte, wo sich die Nebenlager in Gusen befunden haben. Mittlerweile sieht man davon schon lange nichts mehr, seit den 1950er Jahren wurden hier Wohnsiedlungen errichtet. Das führt mich zur Frage, ob ich an einem Ort wohnen würde, wo einst KZ-Gebäude standen. Daniel erzählt mir allerdings, dass ein KZ-Überlebender meinte, er findet es richtig schön, dass dort, wo einst so schreckliche Sachen passiert sind, heute Kinder spielen.
Wir gehen weiter Richtung Steinbruch, der ein Grund dafür war, genau hier ein KZ zu errichten. Die Steinbrüche in Mauthausen und in Gusen befanden sich im Eigentum der Gemeinde Wien, daher hat der Steinbruch in Mauthausen auch den Namen »Wiener Graben«. Unmittelbar nach der im März 1938 erfolgten Besetzung Österreichs durch deutsche Truppen gab es eine Besichtigung dieser Steinbrüche von hohen SS-Leuten, an der Spitze Heinrich Himmler.
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